Angst, Neid, Missgunst: Wie der Schulwechsel in SH zur Belastung wird
Der Wechsel von der Grundschule auf das Gymnasium sollte für Kinder eine spannende, schöne Zeit sein. In Kiel hat ein fragwürdiges Verteilungssystem dazu geführt, dass einige Eltern und Kinder Wochen der Unsicherheit hinter sich haben. Unsere Redakteurin schreibt aus ihrer eigenen Sicht, da auch ihre Familie betroffen war.
"Mama, ist der Schulbrief schon da?" - In Zeiten von E-Mails und WhatsApp kennt man das gar nicht mehr: den Gang zum Briefkasten. War der Postbote schon da? Ist der heißersehnte Brief, die Schulempfehlung von der Schule, da? Unser Sohn wechselt im Sommer auf die weiterführende Schule. Wir haben, wie wahrscheinlich viele andere Eltern mit Vierte-Klasse-Kindern, an den entscheidenden Tagen oft in den Briefkasten gesehen - um endlich zu wissen, ob das Kind den gewünschten Platz auf der weiterführenden Schule bekommen hat. Denn dieser wird in manchen Familien mittlerweile so empfunden wie ein Lottogewinn, wegen eines Losverfahrens, das einen bitteren Beigeschmack hat.
Wechsel aufs Gymnasium oder die Gemeinschaftsschule?
Also mal von vorne: Was kann denn bitte so kompliziert sein, einen Platz auf einem Gymnasium in Kiel zu bekommen? Es gibt genügend Schulen in Kiel, mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Die Familien beschäftigen sich mit den Fragen: "Mit welchen Freunden geht mein Kind auf die weiterführende Schule? Wie weit ist der Schulweg? Welcher Schwerpunkt ist der beste?"
Die Schulen bieten vor dem Anmeldeverfahren regelrechte Werbeveranstaltungen an: mit langen, teilweise dreistündigen Infoabenden. Verteilen Geschenke, zeigen den schicken Chemieraum. Werben mit ihren Auslandsbesuchen. Die Big Band spielt. Die Kinder finden es toll - und entscheiden sich für ihre "Wunschschule". So weit, so gut. Es ist doch immer wieder erstaunlich mit welcher Naivität man auch als Elternteil an das Ganze herangeht. Denn dass die Frage nach einem Schwerpunkt - sprachlich, technisch, musikalisch - am Ende kaum mehr eine Rolle spielt, damit rechnet ja keiner. Wenn man jedoch Pech im Losverfahren hat, dann geht es am Ende plötzlich nur noch darum, ob der Sohn oder die Tochter einen Schulweg von fünf Minuten zu Fuß hat oder 60 Minuten mit dem Bus fahren muss.
Die Vorstufe: Gymnasial-oder Gemeinschaftsschulempfehlung?
In der Grundschule wird am Ende des ersten Halbjahres der vierten Klasse den Kindern zusammen mit dem Halbjahreszeugnis in verschlossenen Umschlägen ein Brief mitgegeben. Darin steht die Einschätzung der Schule, ob das Kind eine Empfehlung für das Gymnasium bekommt oder für die Gemeinschaftsschule. Allein dieser Umschlag setzt die ganze Klasse in Aufregung: "Bin ich gut genug?", "Darf ich aufs Gymnasium?", oder "Werde ich nur eine Empfehlung für die Gemeinschaftsschule bekommen?". Die Kinder haben plötzlich Angst, vor dem Zeugnis und der Empfehlung. Der Umschlag wird dann nicht vor den anderen Kindern, sondern zu Hause mit den Eltern geöffnet. Auf dem Schulhof wird natürlich am nächsten Tag darüber diskutiert, welche Empfehlung man bekommen hat und auf welche Schule man wechseln möchte. Auf welche Schule die meisten Freunde gehen. Neben den Kindern, die laut diskutieren, stehen jedoch auch die Kinder, die leise sind. Nichts sagen.
Zurückgesetzt durch die Empfehlung für die Gemeinschaftsschule?
Zunächst sei gesagt: Die Empfehlung für das Gymnasium oder die Gemeinschaftsschule ist nicht mehr bindend. Es ist, wie das Wort es sagt, eine Empfehlung. Am Ende entscheiden die Familien. Für einige Kinder - und auch Eltern – ist nach der Empfehlung klar: Wir haben keine Gymnasialempfehlung. Das Kind geht selbstverständlich auf die Gemeinschaftsschule.
Für andere ist das allerdings nicht so klar. Das Kind schämt sich vor den Klassenkameraden, möchte nicht als schlechter Schüler wahrgenommen werden. Neben den Sorgen der Kinder haben die Eltern Bedenken. Die Gemeinschaftsschule ist auch nach 14 Jahren bei vielen nicht die erste Wahl. Durch die Abschaffung der Haupt- und Realschule bestehen Bedenken, dass Schüler dort untergehen. Eltern sprechen davon "dass auf der Gemeinschaftsschule zu viele sind, die den Unterricht aufhalten oder stören". Dieser Eltern-Talk, die Gerüchte, verstärken die Ängste. Das Schulsystem der Gemeinschaftsschule, in Schleswig-Holstein final eingeführt 2010, weckt kein Vertrauen.
Druck auf die Gymnasien - aus Angst vor der Gemeinschaftsschule
Dazu kommt: Wir Eltern funktionieren, wenn es um das eigene Kind geht, alles andere als logisch. Plötzlich wird die Diskussion um den Schulwechsel von der sachlichen Ebene gehoben, sie wird hoch emotional. Auf den Infoveranstaltungen der Schulen wird kommuniziert: Geschwisterkinder haben einen Platz auf der Schule sicher. Egal, ob Gymnasial- oder Gemeinschaftsschulempfehlung. Alle anderen werden gelost. Auch egal, ob Gymnasial- oder Gemeinschaftsschulempfehlung. Das löst Neid aus. Der Wohnort, der zukünftige Schulweg: ebenfalls nicht mehr entscheidend.
Ab diesem Moment ändert sich der Ton. Das Verständnis gegenüber allen Eltern, die Sorgen vor der Gemeinschaftsschule haben, wechselt zu: "Der mit der Gemeinschaftsschulempfehlung nimmt doch dann meinem Kind den Gymnasialplatz weg", so wird hinter vorgehaltender Hand getuschelt. Das sei doch unlogisch. Und unfair. Und ganz schnell fühlt man sich aber auch schäbig, weil man selbst plötzlich in einem Zwei-Klassen-System denkt. Aber was soll diese Empfehlung denn dann überhaupt bringen? Dann könnte man sie auch einfach abschaffen, denn am Ende entscheiden sowieso die Eltern, und das nicht nur wegen der Noten. Sie kennen immerhin ihr Kind immer noch am Besten.
Der Run auf die Gymnasien in Kiel
Die Entscheidung für oder gegen das Gymnasium ist eine schwierige Entscheidung. Es ist ein Abwägen, was man seinem Kind zutraut oder im schlimmsten Fall zumutet. Aber das Empfinden, dass das Konstrukt Gemeinschaftsschule an der Stelle nicht richtig vermittelt wird, wird durch die Anmeldezahlen in dem ersten Auswahlverfahren bestätigt. Allein 51 Anmeldungen zu viel auf der Hebbelschule. Auch andere Gymnasien haben abgewiesen, weil es viel zu viele Bewerber gab. Die Entscheidung dazu fiel, so sagen die Schulen, im Losverfahren. Ohne Rücksicht auf die Schulempfehlung oder den Wohnort. Um die "Restplätze" bangen jetzt die Familien. Denn wenn sie eine Absage am Westufer bekommen, bedeutet das tatsächlich einen langen Schulweg ans Ostufer. Für Kinder im ländlichen Bereich sind lange Wege zur Schule ein notwendiges Übel. Bei Kindern, die in der Stadt aufwachsen, ist das aus meiner Sicht eine unnötige Belastung wegen eines nicht ganz durchdachten Verteilungssystems.
"Ich hab Angst vor dem nächsten Brief"
Wenn zehnjährige Kinder sowas sagen, dann passt was nicht. Dann ist irgendwas schief. Wenn Kinder Angst haben, nicht an ihrer Schule angenommen zu werden. Wenn Kindern durch eine Schulempfehlung Angst gemacht wird, dass sie an der falschen Schule sind. Oder anderen den Platz weggenommen haben. Dann wird es auch seltsam. Bitte nicht falsch verstehen: Es gibt auch Kinder, die keine Gymnasialempfehlung haben, und plötzlich in der fünften Klasse brillieren. Weil es dann passt.
Aber wenn Kinder auf dem Schulhof aufhören zu reden, "lass mal schnell das Thema wechseln", weil ein Kind zu ihnen gelaufen kommt, das keinen Platz auf seiner Wunschschule bekommen hat. Weil sie Angst haben, dass das Kind gleich weint, wenn sie von der neuen Schule erzählen. Dann ist es nicht nur seltsam. Dann ist das eine unnötige und vermeidbare Belastung für die Kinder.
Das Bildungsministerium teilte auf Anfrage von NDR Schleswig-Holstein mit: „Am Ende wird allen Kindern, die ein Gymnasium besuchen wollen, ein Platz an einem Gymnasium gesichert sein". Nur wie lange die Kinder dafür fahren müssen, und ob sie dann ganz allein dort sind, ohne ihre Freunde aus der Nachbarschaft, das spielt dann keine Rolle mehr.