ADHS bei Erwachsenen: Aus Vorurteilen können Vorteile werden
Vergesslich, hibbelig, unordentlich: Ein Mensch mit ADHS ist wohl für die meisten gleichbedeutend mit "das wandelnde Chaos". Die Diagnose bedeutet oft, dass Betroffene mit Vorurteilen kämpfen müssen. So wie Adriana aus Kiel.
Dreckiges Geschirr in der Spüle, Möbelstücke und Fußböden als Ablage für Kram? In der Wohnung von Adriana Szymanska aus Kiel ist auf den ersten Blick das Gegenteil der Fall. Alles hat seinen Platz. Bestes Beispiel: das Gewürzregal in ihrer Küche. Fein säuberlich ist alles in Gläser abgefüllt. Diese Ordnung schreit nach einem Kommentar à la "Das sieht gar nicht so aus als hättest Du ADHS".
Darüber kann Adriana heute lachen. "Das täuscht auf jeden Fall", sagt sie. "Ich finde tatsächlich immer irgendwas, was ich nicht beschriftet habe oder wo ich vergessen habe, was drin ist." Die Struktur ihrer Wohnung gehört zu einer ihrer wichtigsten Strategien gegen das Chaos im Kopf.
ADHS steht für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
Immer unorganisiert sein - das ist nur eine von vielen großen Baustellen bei Menschen mit ADHS, mit denen sie bei anderen oft anecken. Sie wirken chaotisch, verlieren oder verlegen ständig Dinge. Grund dafür ist nicht Faulheit, sondern ein Ungleichgewicht zwischen Botenstoffen in ihrem Gehirn. ADHS steht für "Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung".
Dort wo die Botenstoffe zur Übertragung von Informationen gebraucht werden, steht bei Betroffenen zu wenig von den Neurotransmittern Dopamin und Noradrenalin zur Verfügung. Die Ursache dafür ist noch nicht vollständig geklärt. Als erwiesen gilt: Genetische und umweltbedingte Faktoren spielen eine Rolle. Und: ADHS haben nicht nur kleine Jungs, sondern auch Erwachsene. Ihre Behandlung ist eines der Spezialgebiete von Dr. Gernot Langs an der Schön Klinik in Bad Bramstedt (Kreis Segeberg).
Vorurteile: Kinderkrankheit, Zappelphilipp, "das verwächst sich"
Dass ADHS als "Kinderkrankheit" galt, die sich mit dem 18. Lebensjahr verwächst, ist in Langs' Augen "eigentlich unlogisch". Die ADHS, so betont er, wisse nicht, dass jemand jetzt 18 Jahre alt geworden sei. "Bei vielen ist das ja auch im Kindesalter nicht erkannt worden, sondern das waren "der Zappelphilipp" und "schlimme Kinder".
Dass ADHS auch bei Erwachsenen den Weg in die Diagnosehandbücher gefunden hat, sieht Langs als großen Schritt, denn nur so sei es möglich, dass auch sie Therapie bekommen.
Viele Frauen bekommen die Diagnose ADHS erst spät
Eine Möglichkeit, die Adriana erst seit 2023 hat. Wie viele Frauen hat sie die Diagnose erst spät bekommen. Mit 37 Jahren. Dass sie "anders" ist, wusste sie schon immer, hatte aber nie eine Erklärung dafür: "Ich habe mir zwischendurch wirklich Sorgen um mein Gehirn gemacht."
Auf der Suche nach Antworten geht sie zum Hausarzt, erzählt ihm vom Rätseln darüber, warum sie auch einfache Aufgaben irgendwie nicht hinbekommt. Er schickt sie in eine ADHS-Ambulanz, doch auch dort gibt es keine Diagnose.
"Beim ersten Mal bin ich durchgefallen", sagt Adriana: "Ich weiß, das ist kein Test, wo man durchfällt, aber so hat es sich für mich irgendwie angefühlt. Und das war ehrlich gesagt ziemlich frustrierend".
Verträumte Mädchen passten früher ins Rollenbild
Gerade bei Frauen und Mädchen war das in den vergangenen Jahrzehnten keine Seltenheit. Bei ihnen, so erklärt es der Experte Langs, stehe oft die Ablenkbarkeit im Vordergrund, während die Hyperaktivität oft fehle: "Das waren dann diese verträumten Mädchen früher. Diese braven, verträumten Mädchen, die sozial gut angepasst waren." So wie Mädchen nach dem Rollenbild dieser Zeit eben sein sollten. Und deshalb sei man lange gar nicht auf die Idee gekommen, dass auch das zum ADHS-Spektrum gehören könne, so Langs.
Viele Ärzte brachten Symptome mit Bildung in Verbindung
Eine Erfahrung, die auch Adriana machen musste. Negativ in Erinnerung geblieben sind ihr Ärzte, die sie nicht ernst genommen haben, ihr sagten, sie könne kein ADHS haben, schließlich sei sie nie sitzen geblieben, habe Abitur und einen Studienabschluss. "Es wurde überhaupt nicht geguckt, womit ich Schwierigkeiten hatte oder wie energieraubend das Ganze gewesen ist. Das fand ich irgendwie schwierig", sagt sie.
Wichtig: Interview, Tests, Gespräche mit Verwandten
Adrianas Eindruck: Viele Ärzte, bei denen sie war, kannten sich mit ADHS bei Erwachsenen noch gar nicht aus. Das kann Langs nur bestätigen, dabei sei die Diagnose kein Kunstwerk. Doch noch beschäftigen sich zu wenig Therapeuten damit. Wichtig sei ein ausführliches Interview und auch ein paar Tests, die man machen kann. Gespräche mit Eltern oder Geschwistern seien ebenfalls aufschlussreich.
Diagnose bringt neben Behandlungsmöglichkeiten vor allem Erleichterung
Sich selbst besser verstehen lernen ist in der Regel einer der ersten Schritte nach der Diagnose. Die Erleichterung sei groß, erklärt der Experte, wenn Patient*innen nach der Diagnose merken: Sie sind nicht doof, sondern sie haben ADHS und das ist Teil ihrer Persönlichkeit. Wichtig sei bei der Behandlung auch, "dass wir ressourcenorientiert schauen". Also auf die Vorteile der ADHS.
Das es auch Vorteile gibt, wüssten viele nicht. Dabei sei es gerade bei der Berufswahl wichtig zu schauen: Welche Nische passt zu mir? Wenn Menschen mit ADHS etwas interessiert, kriegen sie das vielleicht sogar besser hin als alle anderen. Grund ist der sogenannte Hyperfokus, ein Zustand besonders starker Konzentration, den man aber nicht gezielt herbeiführen kann.
Nicht Schwächen, sondern Stärken sehen - auch im Beruf
Auch Adriana hat mit der Zeit herausgefunden, wo ihre Stärken liegen. Aus Chaos Ordnung machen, mit Nachhaltigkeit und Minimalismus. Mit Tauschpartys nach dem Ausmisten des Kleiderschranks hat sie den Kieler Kreisel ins Rollen gebracht und 2015 das Glückslokal, einen innovativen Second Hand Laden, mitgegründet.
Kreative Lösungen finden, nicht nur für sich, sondern auch für andere, das ist ihre Leidenschaft. Und die hat sie auch zum Beruf gemacht: als Ordnungscoachin. Darüber sagt sie selbst: "Für mich ist das immer so ne kleine Challenge." Ihr Ziel: Ein bisschen mehr als nur "äußere" Ordnung schaffen.
Tipp der Betroffenen: Wohlwollender mit sich selbst umgehen
Viele ihre Kundinnen und Kunden haben selbst eine ADHS-Diagnose oder zumindest den Verdacht, sagt sie. Bei ihnen begegnet sie regelmäßig Problemen, die sie selbst kennt und oft auch gelöst hat.
"Manchmal bin ich die erste Person, mit der sie überhaupt über diese Probleme reden können. Da versuche ich etwas Positives mitzugeben", sagt Adriana. Zum Beispiel: Etwas wohlwollender mit sich sein und verstehen, warum man anders tickt, aber nicht schlechter tickt.