Das Bild zeigt Familie Küchler an einem sonnigen Tag. © Familie Küchler

Förderung fällt weg: Verlieren behinderte Kinder Kita-Platz?

Stand: 16.07.2024 16:03 Uhr

Das Land Niedersachsen will Inklusion fördern. Doch in der Praxis gelingt dies bisweilen nicht: Ein besonderes bedrückendes Beispiel erleben gerade Familien im Landkreis Lüchow-Dannenberg.

von Jon Mendrala

Noch ist alles so wie immer. Der Gehwagen der kleinen Johanna steht im Flur. Friederike Küchler sitzt mit Birte Hansen in der Küche. Die beiden Mütter aus dem Wendland eint eines. Sie haben beide ein behindertes Kind. Für die 36-jährige Friederike Küchler aus Wustrow ist jeder Tag eng getaktet: Ihre Arbeit als Fitnesstrainerin und als Gesundheits-Coach, dazu die Betreuung und die Organisation des Alltags mit der fünfjährigen Johanna, die mit einem offenen Rücken zur Welt gekommen ist: "Meine Tochter kann nicht laufen, man muss sie viel tragen. Wir können nicht einfach sagen: geh' mal raus spielen. Ich muss Johanna daher viel unterstützen. Sie hat zudem eine Darm- und Blasenentleerungsfehlfunktion - das heißt, wir müssen auch Katheter legen. Sie braucht Unterstützung, das ist ein Fulltime-Job", sagt Küchler.

Kinder mit Behinderung in der Kita

Tonda spielt mit seiner Mutter Birte Hansen und seinem Vater Uwe Doladciewitz auf einem Spielplatz. © NDR Foto: Jon Mendrala
Auch der fünfjährige Tonda braucht in der Kita eine Betreuerin.

Auch Birte Hansen hat ein fünfjähriges Kind. Noch geht ihr Sohn Tonda unter der Woche in einen Kindergarten in Hitzacker (Landkreis Lüchow-Dannenberg). In der Kita braucht Tonda eine Betreuerin, eine sogenannte Stützkraft. Seine aktuelle Betreuerin unterstützt ihn im Kita-Alltag und ist immer an seiner Seite. Wichtig ist für die Kinder ein enges Vertrauensverhältnis. Und diese Verbindung könnte nun gekappt werden.

Landkreise finanzieren Betreuerin nicht mehr

Denn bislang wird die Stützkraft durch den Landkreis finanziert. Doch nun entfällt diese Finanzierung. Grundlage ist ein Beschluss des niedersächsischen Landkreistages im vergangenen Jahr. Dieser sieht vor, dass die Stützkraft nicht länger vollständig vom Landkreis finanziert wird. Und das obwohl erst im Jahr 2023 die Vereinten Nationen die Bundesrepublik dafür rügten, die von ihr unterschriebene Behinderten-Konvention nicht umzusetzen. Die Kritik: Inklusion in Deutschland sei vielerorts nicht gewährleistet.

Kinder verlieren Kita-Platz ohne Betreuerin

Die Mutter von Tonda, Birte Hansen. © NDR Foto: Jon Mendrala
Für Birte Hansen hätte es gravierende Folgen, wenn ihr Sohn Tonda nicht mehr die Kita besuchen könnte.

Entfällt die Finanzierung, bleiben den Familien nur noch zwei Optionen: Entweder die Betreuerin selbst zahlen - was bis zu 35.000 Euro pro Jahr kostet, oder ihre Kinder aus der Kita nehmen. Denn ohne Betreuerin können Inklusionskinder in der Kita nicht adäquat betreut werden. Für die betroffenen Familien hätte das gravierende Folgen. Ohne Kitaplatz müssen sie ihre Kinder rund um die Uhr betreuen - berufstätig zu sein, ist dann nicht mehr möglich. "Das ist ein ziemlicher Frust - wir haben eine tolle Stützkraft in der Kita. Und die hat diese Woche gerade entschieden, sich einen anderen Job zu suchen. Einen, der nicht so unsicher ist", sagt Birte Hansen.

Landkreis prüft, Angebote aufzustocken

Der Landkreis Lüchow-Dannenberg äußert sich schriftlich zu dem neuen Beschluss: "Durch den Wegfall der Finanzierung von Stützkräften für Kinder mit besonderen Bedarfen sucht die Verwaltung gemeinsam mit Kita-Trägern nach Lösungen. Bislang gibt es im Landkreis eine heilpädagogische Kita-Gruppe, dieses Angebot könnte entsprechend erweitert werden. Weiterhin gibt es an elf Standorten in den Kita-Einrichtungen Integrationsgruppen, in denen vier Kinder mit besonderem Bedarf betreut werden können, darüber hinaus gibt es auch in Krippen Einzelintegrationsangebote." Keine zufriedenstellende Antwort für betroffene Eltern, denn für die Familien im Wendland ist dies eine enorme psychische Belastung, sagt Birte Hansen: "Es sind nicht die Kinder, sondern die Bürokratie. Es ist ein Kampf an allen Ecken. Und das belastet die Familien erheblich."


"Beschluss bewirkt noch mehr soziale Ungleichheit" 

Für die beiden Familien läuft indes die Zeit: Ändert sich nicht schnell etwas, werden die Kinder ab dem 1. August ihre Kindertagesstätte nicht mehr besuchen können. Und damit droht den beiden schwerbehinderten Kindern eine weitere soziale Ungleichheit. "Am Ende fallen die Kinder durchs Raster. Und das tut schon sehr, sehr weh als Mama. Aber Johanna bleibt mein Sonnenschein", sagt Küchler. Nach dem Beschluss des Landkreistages wurde ihr inklusiver Kita-Platz im Februar zunächst gekündigt. Inzwischen konnte der zuständige Probst des kirchlichen Kita-Trägers zumindest dafür sorgen, dass die Kündigung rückgängig gemacht worden ist. Wie dieser allerdings künftig finanziert werden kann, bleibt weiterhin ungewiss.

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