Aus dem Bürostuhl in den Führerstand - Jobwechsel mit über 50
Die Ausbildung zur Lokführerin ist nicht ohne. Dagmar Sturm aus Süttorf-Neetze hat sich mit über 50 Lebensjahren trotzdem getraut - und die Weichen für ihr Berufsleben neu gestellt.
Bei einer Tasse Tee sitzt Dagmar Sturm kurz vor Dienstbeginn entspannt an ihrem Esszimmertisch in Süttorf (Landkreis Lüneburg) und erzählt, was sie lange Zeit beschäftigt hat. "Ich habe viele Jahre im Gesundheitsbereich gearbeitet, da hatte ich zwei Teilzeitstellen." Immer hin- und herfahren. Sie hat sich bei der Arbeit zunehmend weniger wohl gefühlt. "Ich war irgendwie zweite Wahl." Das habe sich gesundheitlich ausgewirkt. Zunehmend habe sie gespürt: "Ich will das nicht mehr!" In den Mittagspausen war sie oft an der Bahnstrecke Lüneburg-Hamburg spazieren und schaute den Zügen hinterher. Sie dachte: "Da zu arbeiten, im Führerstand, das wär’s!" Schon als Kind war sie von Zügen begeistert. "Mein Vater war Maschinenschlosser bei der Bahn", erzählt Dagmar Sturm. Bei Freifahrten habe sie sich nicht zwei Mal bitten lassen.
Dagmar Sturm will es schaffen - es gebe keinen "Plan B"
Die gelernte Zahnarzthelferin fasst allen Mut zusammen und kündigt ihre sichere Arbeit beim öffentlichen Dienst. Bei der Arbeitsagentur schildert sie ihre Pläne, kann die Sachbearbeiterin von ihrem Wunsch überzeugen und erhält einen Bildungsgutschein. Da ist sie Mitte 50. Es beginnt eine harte Zeit. 13 Monate heißt es Lernstoff pauken für Dagmar Sturm, und das neben wesentlich jüngeren Mitschülern. Signal- und Weichenkunde, Steuereinrichtungen verstehen lernen, erfahren, warum Bremsproben wichtig sind. "Ich habe gesagt, ich muss es schaffen. Ich habe keinen Plan B." Andere Auszubildende zollen ihr Respekt, Dozenten sprechen ihr Mut zu - und es gelingt. Mit 57 Jahren darf sie sich Lokführerin nennen. "Es war für mich wie Weihnachten und Ostern zusammen, als ich die letzte Prüfung bestanden habe. Es war ein Felsen, der von meinem Herzen gefallen ist!" Unvergessen ist der Moment, als sie Freunden und Familie berichten kann: "Stellt euch vor: Ich habe bestanden!"
Arbeiten auf der Lieblingsstrecke
Nach ersten Einsätzen im Güterverkehr schwenkt sie auf Personenverkehr um und heuert bei den Loklöwen an, einem Personaldienstleister im Schienenverkehr. Aktuell fährt Dagmar Sturm für das Eisenbahnunternehmen Erixx zwischen Lüneburg und Kiel. "Ich hätte auch bei der S-Bahn in Hamburg meine Ausbildung machen können. Aber ich will nicht in der Stadt von A nach B nach C fahren." Ihre Strecke liege vor ihrer Haustür und sei dazu noch wunderschön.
Lokführer händeringend gesucht - ob 30 oder 50 Jahre alt
Björn Tiedemann, Sprecher für die Marken Metronom, Enno und Erixx kennt die Nöte der Eisenbahngesellschaften. "Wir brauchen bei uns akut 15 Lokführerinnen und Lokführer. Insgesamt haben wir Interesse an 50 neuen Kolleginnen und Kollegen." Dabei sei es nicht wichtig, ob weiblich, männlich, divers. Egal sei auch das Alter. Und es könnten gern mehr Frauen mit Berufserfahrung sein. Im Moment kämen in den drei Unternehmen auf 400 Lokführer nur 25 weibliche Arbeitskräfte.
Mit mehr Geld dem Fachkräftemangel begegnen
Dagmar Sturm erzählt, dass das Eisenbahnunternehmen Erixx schon während der Ausbildung ein Gehalt zahlt. Die Loklöwen-Akademie wirbt aktuell im Internet um Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger, die bereit sind, eine Weiterbildung zur Lokführerin oder zum Lokführer zu starten. Dabei werden in der Anzeige Gehälter zwischen vier- und fünftausend Euro pro Monat in Aussicht gestellt.
Arbeiten im Schichtdienst, an Feiertagen und Wochenenden
Zwölf Jahre hat Dagmar Sturm im Chor gesungen. Das funktioniere jetzt nicht mehr. Und auch die Familie muss immer wieder mal auf sie verzichten. Doch das kann bei ihr die Freude über die neue Arbeit nicht trüben. Dagmar Sturm ist froh, die Weichen in ihrem Leben neu gestellt zu haben. "Man soll sich Wünsche erfüllen, den Mut haben, etwas Neues zu beginnen. Sonst sagt man sich irgendwann: Hätte ich bloß - und dann ist es vielleicht zu spät."
Gleich muss sie los. Kurz füllt sie ihren Kaffeebecher und ihre Brotdose, stopft beides in den Rucksack und auf geht es zum Dienst. Am Bahnsteig trifft sie ihren Kollegen und erledigt die Absprachen für die Übergabe des Zuges. Schnell ist sie im Führerraum, loggt sich ein, checkt die Systeme. Dann guckt sie noch mal kurz aus dem Fenster, winkt fröhlich - und fährt ab.