Ein eigenes Zuhause - "Ich bin überglücklich"
Es ist ein gutes Leben, das Mariam Taramoush und Zinar Kalash als Apothekerin und Musiklehrer in Syrien führen. Dann kommt der Krieg. Die einst wohlhabende Familie verliert alles, flieht in die Türkei und weiter nach Deutschland. In ihrer Unterkunft in Wildeshausen versuchen Mariam und Zinar mit Sohn Miran und Zinars minderjährigem Bruder Abdul Rahman eine neue Existenz aufzubauen - bis sie wieder umziehen müssen.
Die vierköpfige Familie hat eine lange Reise hinter sich. Von Syrien in ein Camp in der Türkei, schließlich nach Niedersachsen, wo sie zunächst auf Feldbetten in einer Turnhalle schlafen mussten. Nun leben die Taramoushs in ihrer eigenen kleinen Wohnung und blicken zurück.
Die Taramoushs haben dreifachen Grund zum Feiern: Sohn Miran hat Geburtstag, außerdem ist muslimisches Opferfest - und die Aufenthaltsgenehmigungen sind da. Allerdings gibt es doch weiterhin Grund zur Sorge für die Familie aus Syrien.
Das Zuckerfest ist für Muslime wie Familie Taramoush-Kalash der wichtigste Feiertag des Jahres. Umso betrübter ist besonders die Mutter, dass sie in dieser Zeit nicht bei ihren Verwandten sein kann.
Und schon wieder steht ein Behördengang an, der für die Familie Taramoush-Kalash ziemlich wichtig ist: Vor drei Monaten hatte Zinar die Vormundschaft für seinen kleinen Bruder Abdul beantragt. Weil die Brüder Angst haben, dass sie ansonsten getrennt werden könnten. Heute entscheidet eine Rechtspflegerin des Amtsgerichts Wildeshausen über ihren Fall.
Sieben Monate hat Familie Taramoush-Kalash auf einen Termin zur Anerkennung ihres Asylantrages gewartet. Nun ist der Tag endlich gekommen. Sechs Stunden dauert die Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Oldenburg. Alle Familienmitglieder werden einzeln interviewt. "Es war alles entspannt, es hat einfach nur lange gedauert", sagt Zinar Kalash nach dem Termin. Nun hofft die Familie auf einen positiven Bescheid.
Es ist der letzte Tag vor dem Fastenmonat Ramadan. Von Montag an nehmen viele gläubige Muslime ihre Mahlzeiten erst nach Einbruch der Dunkelheit ein. Familie Taramoush feiert dies mit einem letzten Festessen am hellichten Tag. Auf dem Tisch stehen Hühnchenschenkel, gefüllte Aubergine, Reis mit Mandeln und Salat.
Der 16-jährige Abdul würde am liebsten sofort anfangen zu arbeiten, sagt er kurz vor dem Gespräch mit der Berufsberaterin in der Arbeitsagentur Wildeshausen. Sein 30-jähriger Bruder Zinar hat in Syrien bereits als Musiklehrer gearbeitet. Er hofft, dass er auch in Deutschland Kinder an der Grundschule unterrichten kann. Kann ihm die Berufsberaterin weiterhelfen?
Neues Leben, neuer Look! Mariam Taramoush ist jetzt eine Blondine! "Es war eine mutige Entscheidung, in Syrien wäre ich damit sehr aufgefallen", sagt die 30-Jährige. "Aber ich fand blondes Haar schon immer toll." Eine kurdische Friseurin aus Wildeshausen hat ihr den Typwechsel verpasst. Die Mutter achtet sehr auf ihr Äußeres, hat Spaß an Mode und Make-up. Als Geflüchtete und Fremde in Deutschland helfe es ihr, Haltung zu bewahren, sagt sie.
Viereinhalb Monate leben Zinar, Mariam, Miran und Abdul nun schon im Oldenburger Land - zuerst in Wildeshausen, nun in der Samtgemeinde Harpstedt. Viel gesehen haben sie von der Gegend noch nicht. In dieser Woche haben die vier einen ersten Ausflug nach Oldenburg gemacht. "Es tut gut, mal wieder in einer Großstadt zu sein", sagt Mariam, die aus Aleppo in Syrien stammt. Erster Stopp ist ein kurdischer Lebensmittelladen. Das junge Ehepaar kommt aus dem Staunen nicht mehr raus, viele Lebensmittel kennen sie aus ihrer Heimat. Mariam kauft getrocknete Auberginen, Fladenbrot und Gewürze.
"Die Stadt ist wunderschön ..."
Dann geht es weiter durch die Oldenburger Fußgängerzone. Die Temperaturen sind bitterkalt und Zinar hat noch immer keine Winterjacke gefunden. Doch weder bei H&M noch C&A werden sie fündig: "zu teuer", sagt Mariam. Trotzdem ist Zinar begeistert von dem Ausflug. "Die Stadt ist wunderschön und hier ist richtig was los", sagt der 30-Jährige.
Dass Zinar Kalash bisher beim Deutschlernen nicht so richtig mitkam, hat einen einfachen Grund: Er konnte das Geschriebene auf der Tafel nicht richtig erkennen. Seine Brille hatte er auf der Flucht aus Syrien verloren - der örtliche Optiker hat nun eine Lösung für den Familienvater gefunden.
Das Leben zwischen Plastikplanen in einer Turnhalle ist nun Vergangenheit. Familie Taramoush hat nun ihre eigenen vier Wände in Harpstedt im Landkreis Oldenburg bezogen.
Endlich! In Ruhe schlafen, kochen, duschen oder einfach nur Kaffee trinken. Das ist jetzt möglich, denn Familie Taramoush-Kalash kann eine Zwei-Zimmer-Wohnung in Harpstedt ihr neues Zuhause nennen. "Das war ein Zufall, weil jemand anderes ausgezogen ist", sagt der Bürgermeister der Samtgemeinde Harpstedt, Herwig Wöbse (CDU). "Ich bin überglücklich", sagt Mariam und präsentiert stolz Spinat mit Hühnchen auf syrische Art. "Die Zutaten haben wir bei Aldi gekauft", sagt sie. Auch ihr Sohn Miran scheint sich pudelwohl zu fühlen. Zum Essen sitzt er nun im Kindersitz und kleckert munter herum. Vater Zinar backt Kuchen: "Mehl, Eier, Zucker, Backpulver - geht ganz einfach", sagt der 30-Jährige und lernt nebenbei die Alltagsvokabeln. Sein Bruder Abdul hat es allerdings nicht ganz so gut. Die Wohnung ist zu klein, um auch ihm Platz zu bieten. Jeden Abend baut er sich ein Klappbett im Wohnzimmer auf, das am Tage verschwinden muss. Trotzdem ist er erst mal erleichtert, denn die Turnhalle ist für ihn keine Alternative mehr.
Ganz wichtig für die Flüchtlinge ist es, möglichst schnell die deutsche Sprache zu lernen. Zinar macht gemeinsam mit den anderen Männern aus der Turnhalle in Harpstedt seinen ersten Kurs - und ist trotz leichter Sehschwierigkeiten mit großem Eifer dabei.
Die kurze Schneephase im Oldenburger Land hätte durchaus schöner sein können. So mochte der Schnee, der vom Himmel gefallen war, nicht so richtig für eine Schneeballschlacht taugen. Stattdessen gab es in Harpstedt eine eisige Schicht auf Straßen und Gehwegen - gefährliches Glatteis! Trotzdem haben sich Mutter Mariam, Vater Zinar und der kleine Miran über die Abwechslung gefreut. Aus der Kleiderkammer hat die Familie warme Winterkleidung erhalten - bis auf Zinar. Für ihn war bisher keine passende Jacke dabei. "Ist aber nicht schlimm. Hauptsache, meine Frau und Miran sind warm eingepackt", sagt der 30-Jährige. Schnee ist den beiden nicht unbekannt - sie kennen ihn aus Syrien. "Vor fünf Jahren hatten wir dort den letzten Schnee. Das war eine echte Besonderheit", sagt Mariam. Deswegen sei Schnee auch jetzt etwas Besonderes für sie und auch alle Bewohner in der Turnhalle hätten sich sehr gefreut. Nur die starke Kälte habe einigen zugesetzt. Viele fingen sich eine Erkältung ein. In der Turnhalle sei es inzwischen etwas gemütlicher geworden, es werde gut geheizt, berichtet Zinars Bruder Abdul.
Ruhig war es über die Feiertage in Harpstedt. Vor wenigen Tagen hat für die Turnhallenbewohner der Deutschkurs begonnen, an dem Mariam, Zinar und Abdul nun täglich teilnehmen. Große Sorgen macht sich Mariam derweil um ihre Familie in Aleppo. Dass ihre beiden Schwestern und ihre Familien noch immer Terror und Krieg ausgesetzt sind, raubt ihr den Schlaf. In der vergangenen Woche wurde der Kindergarten ihrer Nichten bombardiert. Es habe viele verletzte Kinder gegeben, berichtet Mariam, die täglich Kontakt zu ihren Schwestern Sozan und Fidan hält. Wie durch ein Wunder waren die beiden Zwillinge ihrer Schwester Sozan an diesem Tag nicht dort und blieben so verschont. Doch Glück möchte Mariam das nicht nennen, sie ist zutiefst beunruhigt - trotz der Ruhe in Harpstedt.
"Als ich sie zum ersten Mal sah, wusste ich, dass sie die Richtige ist", sagt Zinar über seine Frau Mariam. Der 30-Jährige hat die Entscheidung, ihr einen Heiratsantrag zu machen, nicht bereut. Zuvor hatten sie zwei Jahre über Facebook und Skype Kontakt zueinander - beide lebten in unterschiedlichen Städten. Als sie im Juli 2013 Hochzeit feierten, wussten die beiden nicht, was auf sie zukommt. Zwar war die Sicherheitslage in Syrien zu dem Zeitpunkt auch schon schlecht, aber ihre Familien waren bis dahin weitgehend verschont geblieben. Das änderte sich einen Monat nach der Hochzeit. Ihr Haus wurde bombardiert. Beide fassten den Entschluss, Syrien zu Fuß in die Türkei zu verlassen. "Wir wollten eine Familie gründen und sahen in Aleppo keine friedliche Zukunft für uns", erklärt Mariam. Die 32-Jährige meint, die Flucht habe ihre Ehe stärker gemacht. Jede Entscheidung haben sie zusammen gefällt, auch wenn es Gegenwind von den Verwandten gab. Ihre Schwiegereltern wollten nicht, dass das junge Paar die gefährliche Reise antritt. Zinar Kalash sagt aber: "Hier in Deutschland haben wir wenigstens eine Chance, in Frieden zu leben."
Es wird wohl noch Monate dauern, bis die Familie Taramoush-Kalash endlich in eine eigene Wohnung ziehen kann. "Uns wurde gesagt, dass es im Sommer 2016 so weit sein könnte", sagt Mariam Taramoush. Für die stillende Mutter ist das eine Hiobsbotschaft, mit der sie nicht gerechnet hat. Auch Ehemann Zinar und Schwager Abdul mussten schlucken, als sie die Nachricht von der Samtgemeinde Harpstedt hörten. Was sie nicht wissen: In Harpstedt ist Wohnraum extrem knapp. Bürgermeister Herwig Wöbse (CDU) sagt: "Sie müssen damit rechnen, dass sie acht oder sogar zehn Kilometer entfernt von Harpstedt unterkommen." Dann würde die Familie mitten auf dem Land wohnen, ohne öffentliche Verkehrsanbindung. Aber selbst das wäre ihnen lieber als in der Turnhalle zu schlafen. "Die Plastikplanen stinken", sagt Abdul. Anders als in Wildeshausen werden ihre Schlafparzellen mit schwarzer Brandschutzfolie geteilt. "Das sieht zwar nicht gut aus, ist aber sicherer“, erklärt der Bürgermeister.
Die Turnhalle in Harpstedt, in der Familie Taramoush-Kalash nun lebt, ist kleiner als die, in der sie zuvor in Wildeshausen untergebracht waren. Doch der Platz, der ihnen zur Verfügung steht, ist nicht etwa größer geworden - im Gegenteil. Mariam und Zinar versuchen trotzdem ihre Zuversicht zu wahren.
Der Traum vom neuen Leben in Wildeshausen ist Geschichte. Eine Wohnung steht für Eltern, Bruder und Kind nicht zur Verfügung und in der Wildeshauser Sporthalle muss Platz geschaffen werden für neue Flüchtlinge. Für Familie Taramoush-Kalash bedeutet das: Sie müssen weg aus Wildeshausen.
Abdul juckt es in den Fingern. Für den 16-jährigen Bruder Zinars gibt es in der Flüchtlingsunterkunft nur wenig Beschäftigung. Häufig sitzt er mit seinem Handy an der Ladestation, schreibt Verwandten oder vertreibt sich die Zeit mit kleinen Spielen. Viel lieber würde er aber umziehen und eine Ausbildung machen, erzählt Abdul. Er hoffe, dass sein Leben bald "in eine richtige Bahn" käme.
Regelmäßig unternimmt die Familie nun kleine Ausflüge zum nahegelegenen Spielplatz. Während Miran schaukelt, schießt sein Vater eifrig Fotos. Nicht nur der Sohn kommt vor die Linse, auch die Umgebung lichtet Zinar mit seinem Handy ab. "Wildeshausen ist wunderschön", schwärmt der 30-Jährige. Ihm und seiner Frau gefalle die kleine Stadt ausgesprochen gut. So gut, dass sie sich hier durchaus ein neues Leben vorstellen könnten.
Kleinste Parzellen in einer Turnhalle für 220 Flüchtlinge - eine von ihnen bewohnen jetzt Mariam, Sohn Miran, Mann Zinar und dessen Bruder Abdul. Ihre Unterkunft wurde bereits aufgewertet, die provisorischen Feldbetten wurden gegen richtige Etagenbetten ausgetauscht. "Wir haben hier genügend zu essen und ein Dach über dem Kopf", sagt Mariam. Doch inzwischen wagt sie es auch, Probleme anzusprechen. Die Parzellen sind nur mit Pressholzwänden voneinander abgetrennt, daher sei es ständig laut, "auch in der Nacht", erzählt die Mutter. Sie wünsche sich, nicht "ewig hierbleiben zu müssen".
Wird das ihre neue Heimat? Es ist ein gewöhnlicher Tag Anfang Oktober, als Mariam Taramoush, ihr Partner Zinar Kalash und Sohn Milan in Wildeshausen eintreffen. Für die Familie ist es ein Tag großer Freude. Ihre letzten Habseligkeiten hatte sie verkauft, um sich die Reise nach Deutschland leisten zu können. Für Mariam und Zinar zählt nur eines: "Dass es Miran gut geht."