Ansturm auf Praxis: Seesen hat wieder eine Kinderärztin
Zwei Jahre lang hatte die Stadt Seesen verzweifelt nach einem Kinderarzt oder einer Kinderärztin gesucht und 25.000 Euro Startkapital versprochen. Nun ist die 20.000-Einwohner-Stadt endlich fündig geworden.
Es ist der erste Arbeitstag von Mihaela Kossmann in ihrer eigenen Kinderarztpraxis im Landkreis Goslar. Die Telefonanlage funktioniert erst seit kurzem und die Terminvergabe mit dem Computer läuft auch noch nicht reibungslos. Die 50-Jährige hat anstrengende Wochen hinter sich. Vor gerade einmal zwei Wochen hat sie die Schlüssel für die neuen Praxisräume bekommen und in dieser Zeit alles zur Kinderarztpraxis umgebaut. "Es war wahnsinnig stressig", erzählt sie. "Aber der Bedarf in Seesen ist so hoch, dass ich einfach keine Zeit verschwenden und so schnell wie möglich aufmachen wollte."
20 Kilometer bis zum nächsten Kinderarzt
Schon ab kurz vor acht Uhr stehen die ersten Patientinnen und Patienten vor der Praxis. Einer von ihnen ist Mentol Sokole mit seiner zweijährigen Tochter Rajana. Die Kleine hat Fieber. "Bislang mussten wir immer 20 Kilometer nach Goslar zum Kinderarzt fahren", erzählt er. "Aber meine Frau und ich haben nur ein Auto, und wenn ich arbeite, musste sie mit dem kranken Kind mit dem Zug fahren. Wir sind sehr froh, dass es in Seesen nun endlich wieder einen Kinderarzt gibt."
Kinderheilkunde in Rumänien studiert
Mihaela Kossmann hat in Bukarest Kinderheilkunde studiert. Bislang arbeitete die gebürtige Rumänin beim Gesundheitsamt in Goslar. Ihr Sohn hatte die Werbekampagne der Stadt Seesen im Internet entdeckt und seiner Mutter davon erzählt. "Ich habe schon lange davon geträumt, irgendwann wieder als Kinderärztin zu arbeiten", erzählt Kossmann. "Aber das ging nicht, als meine drei Kinder noch klein waren. Vor kurzem bin ich 50 geworden, und ich habe mir gesagt: Jetzt oder nie!", erzählt sie und lacht. Die 25.000 Euro Startkapital der Stadt Seesen habe sie ins Computersystem investiert. Für die Geräte, die Einrichtung und den Umbau habe sie dann noch einen Kredit über 130.000 Euro aufnehmen müssen.
Lage auch in den Kreisen Cuxhaven und Cloppenburg angespannt
In Niedersachsen sind aktuell 542 Kinder- und Jugendärzte niedergelassen. Zwar gibt es zurzeit 22,5 offene Kassensitze. In keiner Region aber gibt es laut Kassenärztlicher Vereinigung Niedersachsen (KVN) eine Unterversorgung. Angespannt sei die Lage derzeit jedoch in den Landkreisen Cuxhaven und Cloppenburg. "Immer weniger junge Ärztinnen und Ärzte wagen den Schritt in die Niederlassung", sagt Detlef Haffke von der KVN. Das Durchschnittsalter der zugelassenen Kinder- und Jugendärzte liege derzeit bei rund 54 Jahren.
Praxen müssen immer mehr Vorsorge-Untersuchungen leisten
"Es gibt immer mehr Vorsorge-Untersuchungen, die in den Praxen erledigt werden müssen", sagt KVN-Sprecher Detlef Haffke. Bei der Einführung von Vorsorgeuntersuchungen für Kinder im Jahr 1971 habe es acht Vorsorgeuntersuchungen (U1-U8) gegeben, inzwischen seien es 14. Außerdem habe sich die Zahl der empfohlenen Impfungen für Kinder und Jugendliche in den vergangenen zwei Jahrzehnten fast verdoppelt. Die KVN fordert, dass die Politik mehr Medizin-Studienplätze schafft und die Niederlassung attraktiver macht. Gerade auf dem Land müssten Eltern oft weite Wege auf sich nehmen.
Lange Schlange vor der Kinderarzt-Praxis
Kossmann hat mittlerweile die ersten Kinder behandelt und huscht von einem Behandlungszimmer ins nächste. Zeit für eine Pause haben weder sie noch ihre beiden Sprechstunden-Hilfen. "Ich tue einfach, was ich kann", sagt Kossmann - und zieht ein besonders krankes Kind mit Fieber samt Eltern aus der Warteschlange. Die Schlange zieht sich mittlerweile durch das ganze Treppenhaus bis raus auf die Straße. Und das ändert sich auch bis zur Mittagspause um 12.30 Uhr nicht. "Kinderärztin sein ist meine Leidenschaft", betont die Kinderärztin. Und verschwindet schon wieder im nächsten Behandlungszimmer.