Zahl antisemitischer Vorfälle in Niedersachsen deutlich gestiegen
Die Zahl antisemitischer Vorfälle in Niedersachsen ist 2023 im Vergleich zum Vorjahr um 61 Prozent gestiegen. Das geht aus dem Jahresbericht der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) hervor.
208 antisemitische Ereignisse waren im Jahr 2022 landesweit erfasst worden – ein Jahr später dokumentierte RIAS Niedersachsen insgesamt 331. Fast die Hälfte davon, 153 Vorfälle, hätten sich nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober ereignet, sagte RIAS-Leiterin Katarzyna Miszkiel-Deppe dem NDR Niedersachsen. "Jüdische Menschen sind täglich auch in Niedersachsen Anfeindungen und Bedrohungen ausgesetzt und werden weiterhin für Entwicklungen verantwortlich gemacht, mit denen sie nichts zu tun haben, wie beispielsweise für die Handlungen des Staates Israel", sagte Miszkiel-Deppe.
Elf Angriffe und ein Fall von extremer Gewalt
Bei den Vorfällen unterscheidet die Meldestelle zwischen verletzendem Verhalten, Sachbeschädigung, Bedrohung, Angriff, Massenzuschriften und extremer Gewalt. Den überwiegenden Teil der Fälle machte mit 265 Fällen dabei verletzendes Verhalten aus, wozu etwa Beschimpfungen in Social-Media-Kanälen oder auf der Straße zählen sowie Schmierereien und Versammlungen. RIAS zählte elf Angriffe oder Angriffsversuche ohne schwerwiegende körperliche Verletzungen, wovon die meisten nach dem 7. Oktober stattgefunden hätten. 2022 gab es in dieser Kategorie drei Vorfälle. Zudem wurde der Meldestelle ein Fall von extremer Gewalt bekannt. Details dazu nennt RIAS auf Wunsch der betroffenen Person nicht, wie Miszkiel-Deppe sagte. Generell zählen darunter physische Angriffe oder Anschläge, bei denen Menschen schwer verletzt werden oder sterben können.
Ein Drittel der Vorfälle geschah auf der Straße
Der überwiegende Teil der gemeldeten Vorfälle (107) ereignete sich dem RIAS-Jahresbericht zufolge auf der Straße. 50 der registrierten Fälle spielten sich im Internet ab, 37 in Bildungseinrichtungen wie Schulen und Universitäten und 24 an Gedenkorten. Weitere Vorfälle gab es der Meldestelle zufolge in öffentlichen Gebäuden (18 Vorfälle), im öffentlichen Nahverkehr (15 Fälle), im Wohnumfeld (13 Fälle), am Arbeitsplatz (8 Fälle) und im Umfeld von Synagogen (8 Fälle). Der Blick auf die Orte, an denen sich antisemitische Vorfälle ereigneten, "zeigt, wie allgegenwärtig der Antisemitismus im Leben der Betroffenen ist", heißt es im RIAS-Bericht. Es gäbe kaum Räume, wo Jüdinnen und Juden nicht damit konfrontiert werden. Viele überlegen sich deshalb laut RIAS-Leiterin Miszkiel-Deppe, ob sie sich mit Davidstern oder Kippa zeigten oder ob sie sich als nichtjüdische Person mit Israel solidarisieren.
RIAS unterscheidet zwischen diesen Formen des Antisemitismus:
- israelbezogener Antisemitismus (Jüdinnen und Juden werden als Stellvertreter Israels angesehen)
- Post-Shoah-Antisemitismus (Relativierung oder Leugnung des Holocaust, Täter-Opfer-Umkehr)
- antisemitisches Othering (Jüdinnen und Juden werden als fremd und nicht dazugehörig beschrieben)
- Antijudaismus (religiös begründete Stereotype)
- moderner Antisemitismus (äußert sich vermehrt im Zusammenhang mit Verschwörungstheorien)
Die registrierten antisemitischen Vorfälle lassen sich zum Teil mehreren Kategorien zuordnen. Den Großteil machte im vergangenen Jahr mit 46 Prozent der israelbezogene Antisemitismus aus - ein deutlicher Anstieg im Vergleich zu 2022 mit 8 Prozent. 43 Prozent der Fälle lassen sich laut RIAS dem Post-Shoah-Antisemitismus zurechnen, 41 Prozent dem antisemitischen Othering (41 Prozent), 18 Prozent dem Antijudaismus und 16 dem modernen Antisemitismus.
Hintergrund lässt sich nur in der Hälfte der Fälle zuordnen
Nur etwa die Hälfte der 331 gemeldeten Vorfälle konnte RIAS einem weltanschaulichen Hintergrund zuordnen. In 52 Prozent der Fälle sei dies nicht möglich gewesen. 19 Prozent der Fälle seien auf anti-israelischen Aktivismus zurückzuführen. Bei diesen Akteuren spielt laut Miszkiel-Deppe eine israelfeindliche Motivation eine Rolle. 14 Prozent der Fälle lassen sich laut RIAS einem rechtsextremen, beziehungsweise rechtspopulistischen Hintergrund zuordnen, zwei Prozent einem islamisch, islamistischen Hintergrund.
Zahlen vom Land Niedersachsen noch höher
Die Zahlen von RIAS zu antisemitischen Vorfällen sind etwas niedriger als die vom Land Niedersachsen. So waren dem Innenministerium für das vergangene Jahr 349 Taten bekannt, dem Justizministerium 364. Diese Diskrepanz liegt laut Innenministerium daran, dass RIAS andere Kriterien hat nach denen die Vorfälle erfasst werden. Zum Beispiel taucht eine Hakenkreuzschmiererei bei RIAS in der Statistik nur auf, wenn diese beispielsweise an einer Synagoge erfolgte. Beim Innenministerium wird so ein Vorfall auch dann erfasst, wenn die Schmiererei an einem anderen öffentlichen Ort passiert, hieß es. Dass die Ministerien jeweils etwas unterschiedliche Zahlen vorliegen haben, liegt den Angaben zufolge daran, dass das Innenministerium die Zahlen von der Polizei erfasst. Dem Justizministerium liegen die Fälle vor, die bei der Staatsanwaltschaft liegen - darunter auch noch welche aus dem Jahr 2022.