Jugendhilfe in der Krise: Personalnot gefährdet Kinderschutz
Fast alle Jugendämter in Niedersachsen klagen über gravierende Personalnot. Die Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen in Not ist nach NDR Recherchen vielerorts kaum noch möglich.
Die Nachrichten aus der Jugendhilfe sind alarmierend. Schon im Sommer meldet Osnabrück den Notstand: überfüllte Inobhutnahme-Stellen in Stadt und Landkreis. Und gerade hat die Stadt Hannover ihre Inobhutnahme schließen müssen. Personalmangel und Krankheitsfälle sind der Grund. Die NDR Abfrage bei Jugendämtern in Landkreisen und kreisfreien Städten Niedersachsens zeigt ein dramatisches Bild der Versorgungslage vor Ort. 45 von 56 angeschriebenen Behörden haben geantwortet. Das drängendste Problem: Es fehlt an Sozialarbeitern, Erziehern und Heilerziehungspflegern.
Konkurrenz um gute Leute
Dabei konkurriert die Jugendhilfe inzwischen mit Kitas und Ganztagsschulen um gut ausgebildete Leute. Die Jugendhilfe blutet aus. Mehr als die Hälfte der Jugendämter meldet: Alle Plätze zur Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen in Not sind belegt - und das zum Teil langfristig. Der Mangel an Sozialarbeitern, Erziehern und Heilerziehungspflegern trifft auf einen enorm steigenden Hilfebedarf.
Zahl der Inobhutnahmen steigt
So verzeichnet das Landesamt für Statistik von 2021 auf 2022 einen Zuwachs bei den staatlichen Inobhutnahmen um 20,4 Prozent auf 5.500 Fälle. Das hängt vor allem mit der Vielzahl unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter zusammen, die die Kommunen inzwischen unterbringen müssen. Ihre Zahl hat sich von Dezember 2021 bis Oktober 2023 auf rund 3.400 Minderjährige mehr als verdoppelt.
Zuflucht bei Polizei und in Landkreisbüros
Viele Jugendämter berichten, sie müssten deutschlandweit nach Plätzen suchen. Die Region Hannover hat gerade ein Jugendgästehaus in der Wedemark zur Unterkunft für junge Geflüchtete umgewidmet. Lehrte schreibt von Mitarbeitern, die Kinder zeitweilig in Hotelzimmern betreuen mussten. Auch Northeim hat Jugendliche in Hotels unterbringen müssen, vereinzelt sei es sogar zu Übernachtungen bei der Polizei und in den Räumen der Kreisverwaltung gekommen.
Keine passgenaue Hilfe für schwierige Fälle
Zugleich melden etliche Jugendämter, dass es immer schwieriger werde, passgenaue Angebote zu finden, weil die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit besonders herausforderndem Verhalten ebenfalls steige. Gemeint sind junge Menschen, die besondere Aggressionen zeigen, psychisch belastet sind, sich oder andere gefährden, straffällig oder drogenabhängig sind - sogenannte "Systemsprenger". Eine Studie hat für das Jahr 2010 in Niedersachsen 410 "Systemsprenger" gezählt. Aktuell ist die Rede von rund 600 Betroffenen - gut ein Drittel mehr. Sie fordern das belastete System besonders heraus.
Überfordertes Hilfesystem produziert "Systemsprenger"
Die Folge des Personalmangels: gerade schwierige Kinder und Jugendliche in großer Not werden weitergereicht von einer Einrichtung zur nächsten, weil das Personal fehlt, das es mit ihnen aufnehmen kann. "Drehtüreffekt" heißt das im Branchenjargon, wenn Kinder und Jugendliche durch alle Raster der Jugendhilfe fallen - und aus therapeutischen Wohngruppen und sogar aus der Psychiatrie, weil sie ihre Helfer und Ärzte überfordern.
Unstete Systeme
Es ist unstrittig, dass gute Bindungen wichtig für eine gute Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sind. Doch gute Bindungen lässt der Mangel an Personal aktuell kaum irgendwo zu. Auch Sozialminister Andreas Philippi von der SPD kritisiert, Kinder und Jugendliche landeten zu häufig in unsteten Systemen mit wechselnden Beziehungen. Statt passgenauer Angebote gehe es nur noch um das bloße Vorhandensein von Plätzen. Immerhin: Im Sommer haben Bund und Länder eine Fachkräftestrategie gegen den Notstand in der Jugendhilfe beschlossen. Denn das Problem zeigt sich bundesweit. Ergebnisse indes stehen noch aus.
Neue Helfer-Netzwerke entstehen
Aus der Not heraus entstehen inzwischen Netzwerke, die Leuchtturm-Charakter haben. Jugendhilfeträger vernetzen sich mit Kinder- und Jugendpsychiatrien, um sich auszutauschen und schneller helfen zu können. Einrichtungen vernetzen sich untereinander und teilen ihre Angebote, so wie der "Systemsprengerverbund Braunschweig/ Wolfenbüttel". "AWO, Diakonie und vier weitere regionale Anbieter aus der Jugendhilfe spielen sich in der Versorgung von Systemsprengern quasi die Bälle zu", sagt Nils Borkowski von der AWO-Jugendhilfe. So könne ein Träger die Versorgung eines Jugendlichen übernehmen, ein anderer könne die besondere individualpädagogische Begleitung oder das Sportangebot liefern.
Früher hätten die Jugendämter das allein aus abrechnungstechnischen Gründen nicht mitgemacht. Heute sei das Vorgehen beispielhaft. So käme es seltener dazu, dass Kinder und Jugendliche unplanmäßig aus ihrer Wohngruppe entlassen werden oder Helfer überfordert würden. Etwa zweimal pro Woche muss der Verbund schnell Lösungen für besonders schwere Fälle finden. Bislang klappte das gut. Neuerdings, sagt Borkowski, müssen aber auch hier Anfragen mangels Personal abgelehnt werden.