Rostock: Streit zwischen Jugendamt und Träger geht vor Gericht
In dem Rechtsstreit geht es um rund 461.000 Euro, die der Träger mutmaßlich zu Unrecht erhalten hat. Nach NDR Recherchen gibt es auch Zweifel, ob Senator Bockhahn rechtmäßig gehandelt hat.
Von Dienstag an wird vor dem Rostocker Landgericht ein Streit um Hunderttausende Euro zwischen der Hansestadt und dem Jugendhilfeträger GeBEG mbH verhandelt. Einerseits geht es um die Frage, ob die GeBEG rund 461.000 Euro an die Stadt zurückzahlen muss. Gleichzeitig fordert aber auch die GeBEG rund 560.000 Euro von der Stadt, die diese bisher einbehalten hat.
Jahrelanger Konflikt
Hintergrund ist ein Konflikt, der bereits seit 2020 andauert. Seinerzeit waren dem Jugendamt Ungereimtheiten in den Abrechnungen der GeBEG aufgefallen. Der Träger war von der Stadt beauftragt, sogenannte Hilfen zur Erziehung zu erbringen. Eltern, die Probleme mit der Erziehung ihrer Kinder haben, werden dabei Sozialarbeiterinnen und -arbeiter zur Seite gestellt, die sie unterstützen, etwa Aktivitäten mit den Kindern unternehmen und ein Vertrauensverhältnis zu ihnen aufbauen. So sollen die zugrundeliegenden Probleme und Konflikte in den Familien bearbeitet und gelöst werden.
Mangelhafte Abrechnungen und Dokumentation
Hierbei hatte die GeBEG aber Mitarbeiter als Fachkräfte eingesetzt und als solche abgerechnet, von denen nicht alle auch entsprechend qualifiziert waren. Zu diesem Ergebnis war die Fachkräftekommission der Stadt gekommen, ein Gremium, das die Qualifikationen der Mitarbeiter prüft und bewertet.
Auch die Falldokumentationen der GeBEG waren aus Sicht des Jugendamtes vielfach mangelhaft. Man hegte sogar den Verdacht, dass der Träger gar keine Falldokumentation führe. In diesen Dokumentationen muss jeder Träger protokollieren, welche Mitarbeiter welche Aktivitäten mit den Klienten durchgeführt haben.
Ermittlungen gegen Träger
Als den Prüfern im Amt immer mehr Ungereimtheiten auffielen, erstattete das Jugendamt Strafanzeige. Die Staatsanwaltschaft ermittelte wegen des Verdachts des Betruges gegen den Geschäftsführer und den Prokuristen der GeBEG. Angeklagt allerdings wurden beide nie: Gegen Zahlung von je 5.000 Euro wurden die Ermittlungen eingestellt. Der Anwalt der GeBEG wollte sich auf Anfrage nicht zu dem früheren Vorwurf und dem nun laufenden Verfahren äußern.
Strafrechtlich war die Sache damit erledigt, nicht aber zivilrechtlich: Die Stadt ist haushaltsrechtlich verpflichtet, das mutmaßlich zu Unrecht gezahlte Geld vom Träger zurückzufordern.
Senator Bockhahn schaltet sich ein
Im August 2022 forderte das Jugendamt die Verantwortlichen der GeBEG zunächst auf, rund 463.000 Euro zurückzuzahlen. Diese Summe hatten die Prüfer auf Grundlage der Ermittlungsergebnisse der Staatsanwaltschaft berechnet. Heute fordert die Stadt noch rund 461.000 Euro zurück.
Nun schaltete sich Jugend- und Sozialsenator Steffen Bockhahn (parteilos) persönlich ein. In einem Schreiben an die GeBEG, das dem NDR vorliegt, teilte er dem Träger mit, dass die Zahlungsaufforderung zunächst als gegenstandslos betrachtet werden könne. Verzichtet werde auf die Forderung zwar nicht, aber die Stadt werde sie zunächst nicht eintreiben. Der Grund sei, dass die Verwaltung die Forderung zunächst neu prüfen solle. Eine Rechtsgrundlage nannte Bockhahn in dem Schreiben nicht. Zudem wies er an, dass eine mögliche neue Zahlungsaufforderung mit ihm abgestimmt werden solle.
Auch das Rechtsamt der Hansestadt, das die Forderung nun überprüfte, hielt diese für berechtigt. Dennoch geschah den Dokumenten zufolge erst einmal nichts - bis kurz vor Weihnachten 2022, als das Rechtsamt darauf hinwies, dass ein Teil der Forderung zum Jahresende verjähren könnte.
Innerhalb kürzester Zeit verschickte die Verwaltung eine neue Zahlungsaufforderung an den Träger, um die Verjährung zu verhindern. Als der Zahlungsaufforderung ein Mahnschreiben folgte, zeigte sich Bockhahn den Dokumenten zufolge nicht amüsiert: Er finde "diesen Vorgang wenig erfreulich". Der Plan zu diesem Zeitpunkt: Mit der GeBEG eine Mediation anzustreben, bei der es auch um die Höhe der Rückforderung gehen sollte. Das Mahnschreiben sei dabei "wenig hilfreich". Zudem untersagte der Senator der zuständigen Fachabteilung im Jugendamt alle weiteren Schritte gegen den Träger, sofern sie nicht mit ihm abgestimmt seien.
Hat Bockhahn Kompetenzen überschritten?
Die politisch heikle Frage: Darf ein Senator die Entscheidung seiner Unterabteilung konterkarieren, eine Rückforderung aussetzen und über deren Höhe verhandeln wollen?
Der NDR hat den Fall einem Experten vorgelegt und um eine Einschätzung gebeten. "So wie der Fall geschildert ist, habe ich Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns", sagt Christian Erdmann, Professor für öffentliche Finanzwirtschaft an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin und langjähriger Leiter des Rechnungsprüfungsamtes der Stadt Potsdam. Seiner Auffassung nach ist ein Aussetzen der Forderung wie in diesem Fall "haushaltsrechtlich nicht verankert". "Ein rechtlich sauberer Weg wäre es, die Forderung zu stunden" – das wäre etwa möglich, wenn der Träger sonst pleite gehen würde.
Bockhahn setzte sich intern für Träger ein
Insgesamt entsteht in den Dokumenten der Eindruck, dass der Senator ein großes Interesse daran hatte, die GeBEG als Träger zu halten. Trotz der Ermittlungsergebnisse der Staatsanwaltschaft und der offenen Rückforderung setzte sich Bockhahn ausweislich der Unterlagen mindestens zweimal intern dafür ein, den Träger weiter zu beschäftigen.
Auf Anfrage erklärt die Pressestelle der Stadt vage, das Vorgehen Bockhahns sei nötig gewesen, um Schaden von der Stadt abzuwenden und "pflichtige Leistungserbringungen" zu gewährleisten – gemeint sind die Hilfen zur Erziehung, die die GeBEG für die Stadt erbracht hat. Dies ergebe sich aus der Kommunalverfassung.
Eine Sprecherin des Innenministeriums erklärte, es werde gerade geprüft, ob Anhaltspunkte für den Verdacht eines Dienstvergehens vorliegen. Sollte dies so sein, müsste das Ministerium ein Disziplinarverfahren einleiten.
Möglicher Schaden für die Stadt
Hinzu kommt, dass der Stadt womöglich ein finanzieller Schaden entstanden ist. Durch die Verzögerung bei der Rückzahlung von mittlerweile fast zweieinhalb Jahren sind nach Auffassung von Experten Zinsen aufgelaufen. Zumindest in den dem NDR vorliegenden Dokumenten ist von solchen Zinsen keine Rede. Auf Nachfrage, ob und in welcher Höhe bisher Zinsen aufgelaufen sind und ob die Stadt diese ebenfalls zurückfordert, äußerte sich die Pressestelle nicht und verwies auf das laufende Gerichtsverfahren.
Nach Berechnungen des NDR könnten, ausgehend von einem üblichen Verzugszinssatz von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszins, zwischen August 2022 und Januar 2025 rund 80.000 Euro Zinsen entstanden sein.
Gerichtsverfahren wurden zusammengelegt
Ursprünglich sollten die zwei Klagen der Stadt und des Trägers getrennt vor Gericht verhandelt werden, wurden nun aber zusammengelegt. Hintergrund der Klage der GeBEG ist, dass die Stadt aufgrund der Ungereimtheiten in den Abrechnungen des Trägers weitere Rechnungen nicht oder nur gekürzt ausgezahlt hat. Dieses Geld solle die Stadt nachträglich auszahlen, fordert die GeBEG.
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