Problem Spielsucht in MV: "Verlieren tut so weh"
Millionen Deutsche sind spielsüchtig und viele von ihnen verschuldet. Das zeigt der Glücksspielatlas 2023. Besonders gefährlich sind Online-Casinos und Sportwetten. Die Geschichte eines Betroffenen.
"Ich dachte, man kommt schnell an Geld ran. Aber das hat sich nicht bewahrheitet." Das sagt Jens. Er ist Anfang 50 und spielsüchtig. Eigentlich heißt er anders, möchte aber anonym bleiben. Alles beginnt vor sechs Jahren mit einem ersten Wetteinsatz. Er gewinnt: "Da habe ich gedacht: Ach, das klappt ja gut. Am Anfang war es dann nur ein- oder zweimal die Woche und zum Schluss war es jeden Tag, wo ich eine Wette gesetzt habe", erzählt Jens. Er spielt ausschließlich online am Handy. Meistens sind es Sportwetten, ab und zu auch Casinospiele. An Spielautomaten geht er nie. Bei Wettanbietern tippt er irgendwann nicht mehr nur auf Bundesliga-Spiele, sondern auch bei der zweiten und dritten Liga und schließlich bei Ligen im Ausland. Die Sucht entwickelt sich schleichend.
Der Mythos vom großen Gewinn
Angefangen als spaßiger Zeitvertreib, ist Jens einziges Ziel nun, verlorenes Geld wieder reinzubekommen. Das klappt allerdings selten. "Wenn der Gewinn da ist, ist natürlich die ganz große Freude da. Aber spätestens, wenn du dann mal wieder verlierst, ist es das, was am meisten wehtut." Jens häuft Schulden an. Dafür schämt er sich, auch seiner Familie gegenüber. Zweimal versucht er den Weg aus der Abhängigkeit allein - vergeblich. Nach der eindringlichen Bitte seiner Frau sucht er sich 2023 professionelle Hilfe.
Millionen Deutsche sind spielsüchtig
Wie Jens sind etwa 1,3 Millionen Erwachsene in Deutschland von einer sogenannten Glücksspiel-Störung betroffen. Weitere 3,3 Millionen zeigen erste Anzeichen. Das geht aus dem Glücksspielatlas 2023 hervor. Viele Betroffene häufen Schulden an. Das zeigt zum Beispiel der Bericht der Landeskoordinierungsstelle für Suchtthemen MV von 2022. Knapp die Hälfte der Klienten aus dem Jahr 2021 waren bis zu 10.000 Euro verschuldet. Mindestens 20 Prozent hatten mehr als 10.000 Euro Schulden.
Ursachen von Glücksspielsucht
Nicht jeder, der spielt, wird auch abhängig. Es komme auf verschiedene Faktoren an, so Merle Hüttmann. Sie ist Suchtberaterin in der Volkssolidarität Rostock. Eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für Spielsucht besteht, wenn bereits ein Elternteil betroffen ist. "Umso normaler es in meinem Umfeld ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass ich das selbst auch nicht als problematisch erlebe und dass ich das dann auch ausprobieren will", sagt Hüttmann. Eine weitere Ursache liege in der Persönlichkeitsstruktur: Glücksspielsüchtige leiden häufig unter einem gestörten Selbstwertgefühl, sind sehr risikobereit und neigen zu impulsiven Verhalten, so die Suchtberaterin. Schließlich komme es maßgeblich auch auf die Art des Spiels an. Wer etwa Lotto spiele, füllt einmal wöchentlich einen Schein aus und bekommt einige Tage später das Ergebnis. Bei Sportwetten und Casino-Spielen ist schnell eine Rückmeldung da und der Suchtfaktor sei höher, erklärt Hüttmann.
Online-Spiele sind immer verfügbar
Immer beliebter werden Online-Casinos und Online-Sportwetten. Denn hier entfällt die soziale Kontrolle, erklärt Merle Hüttmann: "Wenn ich in die Spielhalle gehe, dann sieht ja jemand, dass ich sechs, sieben Stunden dort bin. Wenn ich das zu Hause mache, fällt es niemandem auf. Deswegen ist da natürlich ein gewisser Reiz und auch eine Gefahr, weil mich dann niemand aufhält." In ihren Einzel- und Gruppentherapien bemerkt Merle Hüttmann aber besonders die Zunahme von Klienten mit einer Affinität zu Sportwetten.
Zuwachs bei Sportwetten
Mit einem auffälligen Wettverhalten kommen vor allem mittelalte und junge Männer zu ihr in die Beratung. Einen Grund dafür sieht sie darin, wie für Sportwetten geworben wird: "Die Werbung ist sehr klassisch männlich geprägt. Es wird mit traditionellen Männlichkeitsbildern gearbeitet. Da werden die Männer natürlich ganz konkret angesprochen." Große Sport-Events seien oft ein Einstieg in die Welt der Sportwetten. Auf die Fußball-Europameisterschaft im Sommer schaut Merle Hüttmann deshalb mit Sorge. Auch Jens sieht die anstehende EM sie als Herausforderung. Er will nicht in alte Muster verfallen.
Spielfrei durch psychotherapeutische Hilfe
Seit einem Jahr ist Jens in Therapie. Für sämtliche Online-Portale und Casinos hat er sich sperren lassen, genauso für seine Bankkonten, die jetzt seine Frau verwaltet. Die Handynutzung hat er eingeschränkt. Doch am meisten hilft ihm der Rückhalt seiner Familie: "Das war für uns alle schwierig, logisch, denn das war immerhin Geld, das ich verloren habe. Aber wir haben gut durchgehalten." Anderen Betroffenen rät Jens, sich frühzeitig professionelle Hilfe zu suchen.