Ostsee: Rätselhafte GPS-Störungen behindern Schiffs- und Flugverkehr
Im Ostseeraum häufen sich Fälle von gezielten Störungen des Satellitennavigationssystems. Experten sprechen von GPS-Jamming. Aktuell treten großflächige Störungen vom Baltikum bis ins östliche Mecklenburg-Vorpommern auf. Flüge fallen aus, der Schiffsverkehr wird behindert. Die Hintergründe sind noch weitgehend unklar. Wissenschaftler arbeiten an Gegenmaßnahmen.
Am Nachmittag des 3. Oktober 2022 ertönen Alarmsignale auf der Brücke der "Express 4". Die Katamaranfähre der dänischen Reederei Molslinjen rauscht gerade mit knapp 75 Kilometer pro Stunde über den Großen Belt auf dem Weg von Jütland nach Sjællands Odde. Auf den Bildschirmen scheint das Positionssignal verrückt zu spielen. "Ich sah, dass ich mein GPS-Signal verliere", sagt Nis Svenstrup Pedersen später dem TV-Sender "TV2 ØST". Etwas Vergleichbares hat der Kapitän in seiner mehr als 20-jährigen Karriere noch nicht erlebt. Durch den Absturz ist die Fähre schwerer steuerbar, Kollisionen oder Grundberührungen drohen.
Als Pedersen sich gerade daran machen will, seine Fähre mit althergebrachten Mitteln wie Radar und Seezeichen zu navigieren, leuchtet das GPS-Signal plötzlich wieder auf. Nach zehn Minuten hört der Spuk genauso plötzlich wieder auf, wie er begonnen hat. Der Vorfall geht glimpflich aus. Die Fähre kommt wenig später in Sjællands Odde an und die Passagiere gehen arglos von Bord. Die Molslinjen-Reederei erklärte später, die Sicherheit der Passagiere sei nicht gefährdet gewesen. Dennoch verschärften die Verantwortlichen die Sicherheitsanforderungen. Die Schiffe dürfen ohne GPS-Signal nicht mehr auslaufen und die Besatzungen müssen ihr Wissen über traditionelle Navigationstechniken auffrischen.
Ermittler: Sechs Schiffe von GPS-Jamming betroffen
Gleich nach dem Ausfall ruft Kapitän Pedersen seinen Kollegen auf der Schwesterfähre an, die in der Nähe unterwegs war. Er bestätigt ihm, dass auch sein Schiff kurzzeitig das GPS-Signal verloren hatte. "Daraus konnte ich schließen, dass es sich um etwas von außen handelte", so Pedersen. Ermittlungen der dänischen Seefahrtsbehörde ergaben später, dass am Nachmittag jenes 3. Oktober 2022 mindestens sechs Schiffe in einem Umkreis von rund 30 Kilometern ihr GPS-Signal verloren hatten. Die Behörden vermuten sogenanntes GPS-Jamming als Ursache - also den gezielten Versuch, das von einem Satelliten auf die Erde ausgestrahlte Signal im Umfeld des Empfängers mittels eines anderen Senders absichtlich zu stören.
Zwei verdächtige russische Schiffe in der Nähe
Der Verdacht der Ermittler fiel auf zwei russische Kriegsschiffe, die ganz in der Nähe kreuzten - mit ausgeschaltetem AIS ("Automatic Identification System" - ein Transponder, der den Namen des Schiffes, seine Geschwindigkeit und seinen Kurs angibt). Doch klare Beweise für die Urheberschaft der beiden russischen Schiffe an einem der bis dato großflächigsten GPS-Ausfälle in Dänemark, brachten die Ermittlungen noch nicht zutage. Der Fall, der sich nur eine Woche nach den Sprengungen der Nord-Stream-Pipelines ereignete, gilt bis heute als ungeklärt.
Serie von Vorfällen im Ostseeraum
Der GPS-Ausfall im Großen Belt ist nicht der einzige Vorfall dieser Art im Ostseeraum. Im März 2023 meldete ebenfalls eine Molslinjen-Fähre einen GPS-Ausfall beim Einlaufen in den Hafen von Rønne auf Bornholm. Das Schiff konnte erst mit zweistündiger Verspätung festmachen. Ein Bord-Ingenieur gab an, über der Fähre eine Drohne gesehen zu haben. Bereits im März 2022, rund 14 Tage nach dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine, meldeten finnische Behörden GPS-Ausfälle in Teilen des Landes - zeitgleich mit einem Besuch des finnischen Präsidenten in Washington bei seinem amerikanischen Amtskollegen. Auch über der See bis in die Gegend um die russische Exklave Kaliningrad war die Satellitennavigation mehrmals gestört. Flüge mussten abgesagt werden. Aus Norwegen und Schweden wurden ebenfalls Vorfälle gemeldet, Untersuchungen eingeleitet. Ergebnisse: Fehlanzeige.
"Baltic Jammer": GPS-Störungen bis nach Mecklenburg-Vorpommern
Seit Mitte Dezember gibt es Anzeichen für eine neue größere Stör-Aktion, die auch bis nach Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg hineinreicht. Zu diesem Vorfall, der teils durch sehr starke und großflächige Störsignale gekennzeichnet ist, haben private Accounts aus der OSINT-Szene (Open-Source-Intelligence) frei zugängliche Daten - Positionsmeldungen von Flugzeugen und Schiffen in dem Gebiet - zusammengetragen und etwa auf der Website www.gpsjam.org veröffentlicht. Dort wird das Ausmaß erkennbar: Die derzeitigen Störungen begannen demnach verstärkt Mitte Dezember und erstrecken sich nahezu über die gesamte südöstliche Ostsee zwischen Südschweden, dem Baltikum sowie Polen und reichen im Westen bis zur Insel Rügen. Der "Baltic Jammer", wie er in OSINT-Kreisen auch bezeichnet wird, sendet an verschiedenen Tagen unterschiedlich stark und in wechselnden Bereichen - mit eindeutigem Schwerpunkt auf Polen. Manchmal folgen die Störungen in ihrer zeitlichen und räumlichen Ausdehnung wiederkehrenden Mustern. Besonders stark waren die GPS-Ausfälle demnach etwa an den Weihnachtsfeiertagen 2023 und dann wieder am 10. Januar 2024.
Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt: "Starke Störungen im Ostseeraum"
Das Zentrum Luftoperationen der Bundeswehr teilte auf NDR Anfrage mit, dass es Kenntnis von diesen Störungen habe und dass diese "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht auf Weltraumwetter (Sonnenstürme) zurückzuführen" seien. Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) bestätigt auf NDR Anfrage, dass sich im Ostseeraum "derzeit starke Störungen des GNSS-Empfangs" feststellen lassen. GNSS steht als Oberbegriff für globale Satellitennavigationssysteme wie etwa das US-amerikanische GPS, das europäische Galileo, das russische GLONASS oder das chinesische Beidou. Es sei auch schon zu Routenänderungen und Flugausfällen gekommen.
An sich ist GPS-Jamming einfach
Am DLR-Institut für Kommunikation und Navigation forschen die Abteilungen von Ralf Ziebold am Standort Neustrelitz sowie von Michael Meurer und Florian David im bayerischen Oberpfaffenhofen schon seit Jahren auf dem Gebiet der Satellitennavigation - speziell auch in den Bereichen Luft- und Schifffahrt. Ziebold und die Forscher vom DLR halten die den Ergebnissen der OSINT-Ermittler zugrunde liegenden Methoden grundsätzlich für geeignet, um GPS-Ausfälle zu dokumentieren. "Die publizierten Ergebnisse decken sich durchaus mit Erkenntnissen, die wir aus eigenen Messungen an Bord von Schiffen und Flugzeugen gewonnen haben", so die DLR-Wissenschaftler.
An sich sei GPS-Jamming ganz einfach, erklärt Ziebold. "Hintergrund ist, dass die Satellitensignale ganz, ganz schwach sind." Denn die Satelliten sind rund 35.000 Kilometer entfernt. Und beim Empfang auf der Erdoberfläche sind die Signale "eigentlich nur noch Rauschen." Dementsprechend können bereits sehr schwache Signale den Empfang stören. Ein kleines Gerät, das man in den Zigarettenanzünder vom Auto stecken kann, reiche aus, um den Empfang von globalen Navigationssatellitensystemen in einem Umkreis von mehreren hundert Metern zu stören. Doch je großflächiger der Bereich ist, der gestört werden soll, desto leistungsstärker und größer müssen auch die Sender sein.
DLR-Forscher: Problem ernst nehmen, aber "keine akute Gefahr"
Die Forscher haben die gegenwärtige Störungskampagne im Blick. "Eine konkrete Ortung ist möglich. Zu den Ergebnissen können wir allerdings keine Auskunft geben", erklären die Experten. Diese Antwort könnte darauf deuten, dass die Frage nicht ohne politische Brisanz ist. "Keine akute Gefahr" sieht das DLR hingegen für die zivile Luft- und Schifffahrt. Es sei zwar zu Flugausfällen und Routenänderungen gekommen, aber zur Positionsbestimmung würden stets mehrere Technologien zum Einsatz kommen und die Kapitäne nicht von einem System allein abhängig sein. "Aber es ist trotzdem eine gewisse Herausforderung für den Schiffsführer, bei GPS-Jamming sicher zu navigieren", betont Ziebold. Denn nicht nur die Navigationsausrüstung werde getroffen. Jamming wirke sich auch auf das Radar und die Nutzung mobiler Walkie-Talkies aus. Das Bundesverkehrsministerium erklärte, dass es keine Gefährdung für den Schiffs- und Luftverkehr sehe, weil die Ausstattung mit Navigationssystemen redundant sei und geeignete Alternativen zur Verfügung stünden.
Hybride Kriegsführung vermutet
Hinter dem GPS-Jamming vermuten Ermittler des schwedischen Militärgeheimdienstes MUST "russische hybride Kriegsführung". Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt der Militäranalyst Anders Puck Nielsen von der Dänischen Verteidigungsakademie. In Russland gebe es eine lange Geschichte von GPS-Störungen. Es sei zudem das einzige Land, bei dem man sofort ein Motiv erkennen könne. "Abschreckung und Einschüchterung. Die anderen Länder werden so an die Gefahr eines Konflikts im Ostseeraum erinnert", sagte Puck Nielsen dem NDR in MV. Neben Russland werden in polnischen Medien aber auch Übungen der NATO im Ostseeraum als möglicher Ursprung genannt. Die dazu notwendigen militärischen Fähigkeiten haben sowohl Russland als auch die NATO.
Wird eine neue Waffe für die elektronische Kriegsführung getestet?
In der OSINT-Gemeinde werden auch Hinweise auf eine russische Militäreinrichtung in der russischen Exklave Kaliningrad als Ausgangspunkt diskutiert. Quelle könnte das russische "Tobol"-System zur elektronischen Kriegsführung sein, mit dem ganz neue Technologien erprobt werden könnten. "Die russischen Fähigkeiten zur elektronischen Kriegsführung im Kaliningrader Gebiet haben erhebliche Auswirkungen auf Polen und die baltischen Länder", schrieb der US-Thinktank Institute for the Study of War (ISW) Mitte Januar. Das sei bemerkenswert.
GNSS ist Teil vieler Bereiche des Alltagslebens
Für die DLR-Experten steht fest, dass man GNSS-Störungen ernst nehmen müsse. Denn die Satellitennavigation hat weite Bereiche des Alltagslebens moderner Gesellschaften durchdrungen, dementsprechend weitreichend könnten die Folgen eines Ausfalls sein. Das Anwendungsgebiet gehe über die Positionsbestimmung in Verkehr und Landwirtschaft weit hinaus. "Die Satelliten strahlen präzise Zeitsignale ab, die eine hochgenaue Synchronisation von technischen Systemen erlauben", so die Wissenschaftler. Automatisierte Prozesse wie etwa Stromnetze, moderne Telekommunikationsnetze oder etwa Finanztransaktionen nutzen dies. Die Folgen von Störungen müssten bei der Entwicklung neuer Technologien wie etwa der Automatisierung im Straßenverkehr berücksichtigt werden. Es sei wichtig, "wirksame Gegenmaßnahmen" zu entwickeln.
Alternative Navigationssysteme und smarte Empfangssysteme sollen helfen
Solche Gegenmaßnahmen werden am DLR selbst entwickelt - etwa das alternative Navigationssystem R-MODE, das derzeit in der Ostsee getestet wird. Bei GNSS-Störungen kann es als Backup dienen und andere Funksignale mit ähnlicher Genauigkeit bereitstellen. Auch in der Luftfahrt wurde mittlerweile ein Alternativ-Positionierungssystem erdacht. Einen Schritt weiter will das DLR mit einem neuen Empfangssystem gehen, das die Richtung eingestrahlter Störsignale erkennen und unterdrücken kann. Das Ziel ist auch, Schiffe und Flugzeuge rechtzeitig vor Ausfällen der Navigation zu warnen.
Nautik-Studenten trainieren GPS-Ausfall im Schiffssimulator
"Das Risiko, dass auf See Unfälle passieren, ist vergleichsweise hoch", sagt der Navigations-Professor Michael Baldauf von der Fachhochschule Wismar mit Blick auf die Kadetrinne zwischen Rostock und Dänemark. Sie ist eine der am meisten befahrenen Seewege Europas. Im Schiffssimulator in Warnemünde lernt der nautische Nachwuchs mit plötzlichen Ausfällen der Satellitennavigation umzugehen. "Wir wollen, dass unsere Studenten GPS-Ausfälle rechtzeitig erkennen und auf alternative Navigationsmethoden umschalten können", erklärt Baldauf. Das umfasst die Navigation mithilfe des Radars, anhand von Landmarken, Seezeichen und zu guter Letzt auch mit der klassischen Seekarte. Sollten die angehenden Nautiker eines Tages mal in eine ähnliche Lage geraten wie Schnellfähren-Kapitän Pedersen im Oktober 2022 im Großen Belt, wissen sie, was zu tun ist.