Nach sexualisierten Aufnahmen: Nordkirche veröffentlicht Gutachten
Im Fall um sexualisierte Aufnahmen, die bei einer kirchlichen Jugendfreizeit in Zinnowitz 2020 entstehen, ziehen der Pommersche Kirchenkreis und die Kirchengemeinde Zinnowitz die Reißleine. Der Gemeindepädagoge Cord B. wird dauerhaft von der Kinder- und Jugendarbeit suspendiert. Grundlage ist ein Gutachten der Hochschule Neubrandenburg.
Tobias Sarx ist eine gewisse Erleichterung anzumerken. Eine monatelange Arbeit liegt hinter ihm mit erstem Ergebnis. Der Stralsunder Propst leitet seit Mitte September den Beratungsstab der Nordkirche, der den Fall "Jugendcamp Zinnowitz 2020" und die Rolle des Gemeindepädagogen Cord B. und eines weiteren Mitarbeiters der Kirche untersuchen soll. Der filmt und fotografiert, es entstehen Aufnahmen von nackten Jungs unter der Dusche und sexualisierte Fotocollagen, die, auf eine CD gebrannt, an die rund 20 Jugendlichen verteilt werden. Cord B., der verantwortlich ist, greift nicht ein. Der Fotograf darf fortan keine Jugendfreizeiten mehr begleiten. Für Cord B. ändert sich nichts.
Schutzmechanismen haben nicht gegriffen
Mehr als 250 Stunden hat Tobias Sarx in den Fall investiert - zusätzlich zu seiner Arbeit als Propst. Er hat stundenlange Telefonate mit Betroffenen geführt, ist mehrmals nach Usedom zu Gesprächen gefahren, hat viele Treffen und Beratungen hinter sich. "Ich bin erschöpft", gibt er zu. Es habe ihn sehr bewegt, dass er sich mit so einem Fall beschäftigen muss, obwohl die Nordkirche seit mehr als zehn Jahren an dem Thema Prävention dran sei. "Ich habe mich gefragt, warum die Schutzmechanismen nicht ausreichend gegriffen haben." Tobias Sarx holt externe Expertise dazu, lässt den Professor für Sozialpsychologie und Sozialpsychiatrie der Hochschule Neubrandenburg, Andres Speck, ein Gutachten zur Eignung von Cord B. für die Kinder- und Jugendarbeit anfertigen.
Gutachter interviewt Betroffene
Drei Monate lang arbeitet der Professor daran, spricht mit vier Betroffenen, die mittlerweile erwachsene junge Männer sind und kritische, aber auch positive Erfahrungen mit Cord B. gemacht haben. Der Gutachter spricht zudem mit einem Pastor und Eltern eines betroffenen Jugendlichen. Andreas Speck kommt schließlich zu diesem Ergebnis: "Der Beschuldigte ist offenbar überfordert, Nähe und Distanz in gebotenem Maße zu regulieren und so seiner fachlichen Verantwortung gegenüber den anvertrauten Jugendlichen und deren Eltern sowie gegenüber der evangelischen Kirche als Arbeitgeber in allen Belangen gerecht zu werden. Auch zeigen die Vorfälle, die vom Beraterstab gesammelt worden sind, dass das Abstinenzgebot kaum strikt eingehalten worden ist. Vor diesem Hintergrund ist eine Weiterbeschäftigung in der Kinder- und Jugendarbeit fachlich unbedingt zu vermeiden."
Pommerscher Kirchenkreis kündigt Arbeitsvertrag
Cord B. will sich dazu gegenüber dem NDR nicht äußern. Auch der Kirchengemeinderat Zinnowitz nicht, wo er zu 75 Prozent für die pädagogische Arbeit angestellt ist. Nach Angaben des Sprechers der Nordkirche, Dieter Schulz, hat der Kirchengemeinderat allerdings am 10. Januar beschlossen, Cord B. dauerhaft von der Kinder- und Jugendarbeit zu suspendieren. Zudem müsse er an einer "Maßnahme zur Reflexion seines Nähe-Distanz-Verhaltens" teilnehmen. Nach Abschluss dieser Maßnahme werde erneut beraten, wie es mit der Personalie weitergeht. Vorerst werde Cord B. innerhalb der Zinnowitzer Kirchengemeinde im Erwachsenenbereich eingesetzt. Der Pommersche Kirchenkreis, für den Cord B. ebenfalls pädagogische Jugendarbeit geleistet hat, hat den Arbeitsvertrag mit ihm gekündigt.
Erst Presseanfragen bringen Aufarbeitung ins Rollen
Und doch: Mehr als drei Jahre lang hat Cord B. nach dem Jugendcamp 2020 in Zinnowitz weiter als Gemeindepädagoge gearbeitet - obwohl sich bereits im Herbst 2020 ein Beratungsstab der Nordkirche mit den Geschehnissen auseinandergesetzt hatte. Wie konnte das passieren? Dies wolle der Beratungsstab im nächsten Schritt beleuchten, so Tobias Sarx. Offensichtlich sei bislang, dass damals "Informationsströme nicht zusammengelaufen sind, die es zum beschuldigten Mitarbeiter gab".
Und auch erst durch die Anfragen des NDR und anderer Medien sei "etwas ins Rollen" gebracht worden, räumt Tobias Sarx ein. "Dafür sind wir dankbar. Junge Leute hätten dadurch den Mut gefasst, uns anzusprechen." Zusätzliche Informationen über Cord B. seien so ans Tageslicht gekommen, die über das Jugendcamp 2020 in Zinnowitz hinausgehen. Und das habe offenbart, dass sich das Verhaltensmuster des Gemeindepädagogen über viele Jahre durchgezogen hat. Er habe ein "grundsätzliches Defizit im Nähe-Distanz-Verhalten", deshalb habe man zum Schutz von Minderjährigen die Reißleine gezogen. "Für uns ist wichtig, dass Kirche ein sicherer Ort ist." Und eines ist dem Propst noch wichtig: Er findet es sehr schade, wenn die Kirche jetzt unter Generalverdacht stünde. Sehr viele haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter würden hervorragende Arbeit mit Kindern und Jugendlichen leisten.
Cord B. unterrichtet Kinder und Jugendliche an Zinnowitzer Schule
Cord B. arbeitet trotzdem weiter mit Kindern und Jugendlichen. Nicht mehr innerhalb der Kirche, sondern an der Freien Schule Zinnowitz. Dort unterrichtet er Religion und ist für die Schulsozialarbeit verantwortlich. Schulleiter Frank Schmidt hat Informationen rund um Cord B. vom Beratungsstab der Nordkirche erhalten, war sogar bei einer Konferenz dazu dabei. Gegenüber dem NDR wollte er sich nicht dazu äußern, ob er Cord B. weiter an der Schule beschäftigen möchte. Unklar ist zudem, ob die Staatsanwaltschaft Stralsund noch Ermittlungen gegen Cord B. und den damaligen Fotografen bei der Jugendfreizeit Zinnowitz aufnehmen wird. Die Nordkirche hatte Strafanzeige gestellt und zahlreiche Berichte, Fotos und Videos eingereicht. Laut einem Sprecher soll die Prüfung im Februar abgeschlossen sein.