Messerattacke in Stralsund: Scharfe Kritik an Polizei und Staatsanwaltschaft
Ein renommierter Polizeiwissenschaftler hält es für denkbar, dass die Behörden den Fall einer Messerattacke Ende Mai vertuschen wollten. Dabei hatte ein Deutscher einen Italiener tunesischer Abstammung in einer Bar angegriffen. Die Staatsanwaltschaft möchte sich nicht zu möglichen Ermittlungspannen der Polizei äußern.
Er ist einer der angesehensten Kriminologen und Polizeiwissenschaftler Deutschlands: Thomas Feltes ist Professor an der Ruhr-Universität Bochum und berät seit Jahrzehnten auch internationale Organisationen, wie die UN, Interpol oder das FBI. Der NDR hat ihn gebeten, anhand der Aussagen der Staatsanwaltschaft und von Zeugenaussagen, die Messerattacke von Stralsund am 26. Mai zu analysieren.
Experte: "Fall sollte unter der Decke gehalten werden"
Zum Vorgehen der Behörden sagte Professor Feltes: "Man hat schon den Eindruck, dass von Anfang an Fehler gemacht worden sind, diese Fehler sich dann summiert haben und man dann am Ende tatsächlich auch vonseiten der Staatsanwaltschaft versucht hat, diese Fehler zu vertuschen." Wenn der Fall nicht in den Medien aufgegriffen worden wäre, dann hätte man wohl tatsächlich versucht, ihn unter der Decke zu halten, meint Feltes. Oder man hätte das Verfahren womöglich ganz eingestellt, ohne irgendjemanden zu informieren, so Feltes. Der NDR hat die Staatsanwaltschaft dazu um eine Stellungnahme gebeten. Die Antwort des Pressesprechers kam schriftlich:
"Eine seriöse Bewertung des Zitates von Prof. Feltes ist schon deshalb nicht möglich, weil Sie die ihm - möglicherweise durch Sie - zur Verfügung gestellte Tatsachenbasis, auf der sein "Statement" beruht, nicht konkret mitteilen." Sprecher der Staatsanwaltschaft Stralsund
Das Motiv bleibt weiterhin unklar
So viel ist inzwischen bekannt: Ein 64-jähriger Deutscher soll in alkoholisiertem Zustand einen 28-jährigen italienischen Staatsbürger, der in Tunesien geboren wurde, mit einem Klappmesser verwundet haben. Die Tat ereignete sich gegen 2 Uhr morgens in einer Bar in der Stralsunder Altstadt. Der Beschuldigte kam zunächst wegen versuchten Mordes in U-Haft, wurde aber später entlassen, nachdem der Vorwurf in "Gefährliche Körperverletzung" umgewandelt wurde. Das Motiv sei immer noch unklar, so die Staatsanwaltschaft, auch sechs Wochen nach der Tat. Der Beschuldigte selbst schweige zu seinen Beweggründen, heißt es.
Experte: Wohnungsdurchsuchung erfolgte zu spät
Auch, dass die Wohnungsdurchsuchung erst neun Tage nach der Tat durchgeführt wurde, hält Krimonologe Feltes für einen schweren Fehler. Die Durchsuchung hätte seiner Ansicht nach spätestens am Morgen nach der Tat erfolgen müssen. "Wenn man ganz böse formulieren will, könnte man auch sagen: Man wusste, dass man dann nichts mehr findet und unter Umständen auch nicht in die Verlegenheit kommt, eben den entsprechenden politischen Hintergrund untersuchen oder dokumentieren zu müssen."
Kann das Handy des Beschuldigten das Motiv liefern?
In diesem Fall gehe es eben auch um mögliche Hinweise darauf, ob die Tat einen im weitesten Sinne politischen oder rechtsextremen Hintergrund hatte. Und natürlich seien viele Beweismittel sehr flüchtig, wie beispielsweise Handys, so Thomas Feltes - da könnten sehr schnell ganze Chatverläufe gelöscht werden. Laut Staatsanwaltschaft Stralsund wurde das Handy des Beschuldigten noch in der Tatnacht des 26. Mai konfisziert, eine Auswertung lag aber bis Mitte vergangener Woche nicht vor.
Experte: Tatort hätte gesperrt werden müssen
Merkwürdig findet Feltes auch den Umstand, dass die Bar nicht gleich gesperrt und Spuren von der Polizei gesichert wurden. In der Regel müsse ein Tatort, an dem man es mit einem versuchten Tötungsdelikt zu tun habe, schnellstmöglich gesichert werden. "Das heißt, es mussten alle Spuren dokumentiert werden. Das bedeutet natürlich ganz konkret, die Bar muss geräumt werden und der Ermittlungsdienst, beziehungsweise die Kriminaltechnik, muss ihre Arbeiten aufnehmen."
Experte: Pressevorbehalt der Staatsanwaltschaft nicht schlüssig
Ziemlich schnell reagierte allerdings die Staatsanwaltschaft, beziehungsweise der Bereitschaftsstaatsanwalt: Noch am Tag der Tat erließ er einen sogenannten Pressevorbehalt: Somit wurde keine Polizeimeldung über die Messerattacke veröffentlicht und auch Medienauskünfte nur vom Pressesprecher der Behörde erteilt. Dadurch kam zehn Tage lang gar nichts ans Licht der Öffentlichkeit. Zur Begründung heißt es, dass Zeugen nicht von den Medien beeinflusst werden sollten.
Für den Polizeiwissenschaftler Feltes ist das keine schlüssige Begründung: "Pressevorbehalte macht man in der Regel dann, wenn eine Tat unter Umständen noch gar nicht abgeschlossen ist, wenn Tatverdächtige auf der Flucht sind oder wenn sonstige, ganz besondere Vorfälle da sind." Das sehe er in diesem Fall aber nicht, meint Feltes. Er habe eher das Gefühl, dass die Staatsanwaltschaft sehr früh erkannt hat, dass hier nicht alles korrekt abgelaufen sei und deshalb versucht wurde, die Sache möglichst "niedrig zu hängen", um zu verhindern, dass darüber in der Presse berichtet wird.
"Sowohl die vor Ort eingesetzten Polizeivollzugsbeamten des Polizeihauptreviers Stralsund als auch der Kriminalpolizei haben alle notwendigen und unaufschiebbaren polizeilichen Maßnahmen getroffen, um den Sachverhalt zu erforschen." Schriftliche Mitteiliung des Innenministeriums MV, 16. Juni 2024
Ex-Kriminaldirektor: "Das Ministerium hat wohl die Unwahrheit gesagt"
Ähnlich sieht den Fall der Stralsunder Messerattacke auch ein weiterer Experte: Der ehemalige Leiter der Polizeidienstelle Neubrandenburg, Siegfried Stang. Der Kriminaldirektor a.D. macht dem Innenministerium in Schwerin im Zusammenhang mit möglichen Ermittlungspannen der Polizei schwere Vorwürfe. Die Aussage des Ministeriums, es seien "alle unaufschiebbaren Maßnahmen getroffen worden", stehe im Widerspruch zur verspäteten Wohnungsdurchsuchung, so Stang. "Und insofern hat das Ministerium wohl die Unwahrheit gesagt."
Ministerium: Ermittlungsarbeit nicht zu beanstanden
Bei der Frage, ob diese Aussage des Innenministeriums aus heutiger Sicht aufrechterhalten werden kann, verweist eine Sprecherin des Innenministeriums nach erneuter NDR Anfrage auf die Staatsanwaltschaft beziehungsweise auf das Justizministerium. Dieses wiederum antwortet mit einer früheren Pressemitteilung von Ministerin Jaqueline Bernhardt, in der es heißt: "Ich sehe keine Veranlassung, die Ermittlungsarbeit der Staatsanwaltschaft Stralsund zu beanstanden."