Grundgesetz und deutsche Trennung: Debatte über Art der Wiedervereinigung
Als vor 75 Jahren das Grundgesetz der Bundesrepublik in Kraft tritt, wird die faktisch längst bestehende Teilung Deutschlands rechtlich vollzogen. Doch in den 40 Jahren der Teilung hält das Grundgesetz die Idee der deutschen Einheit wach. Über die Art der Wiedervereinigung wird bis heute debattiert. Dabei geht es auch um ostdeutsches Selbstwertgefühl.
Am 8. Mai 1949 - genau fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges - verabschiedet der Parlamentarische Rat in Bonn das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Die westdeutsche Wochenschau "Welt im Film" berichtet im enthusiastischen Stil der 40er-Jahre: "Nach der Zustimmung durch die westlichen Militärgouverneure muss das Grundgesetz noch durch die Landtage der 11 westdeutschen Länder ratifiziert werden." Das geht ziemlich schnell. Schon zwei Wochen später, am 23. Mai 1949, tritt es in Kraft.
SED-Propaganda fürchtet um "nationale Existenz"
Im anderen Teil Deutschlands, in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), zeigt sich das "Neues Deutschland" verschnupft. Die SED-Zeitung verurteilt das Grundgesetz als "Trauerspiel", "Spaltungsmaßnahme" und "verhängnisvoll" für die "nationale Existenz des deutschen Volkes". Gut vier Monate später wird aus der SBZ die DDR. In deren Verfassung heißt es: "Deutschland ist eine unteilbare demokratische Republik. Es gibt nur eine deutsche Staatsangehörigkeit." Doch dieses Bekenntnis zur Einheit unter kommunistischen Vorzeichen wird später schrittweise gestrichen. Ab 1968 definiert sich die DDR als "sozialistischer Staat deutscher Nation". 1974 wird der gesamtdeutsche Bezug gestrichen - die Verfassung spricht nun vom "Volk der Deutschen Demokratischen Republik".
Grundgesetz dachte DDR-Bürger mit
Anders das Grundgesetz der Bundesrepublik: Es hält durchgängig am Ziel der deutschen Einheit fest. "Die Einheit hatte Verfassungsrang. Insofern waren wir Ostdeutschen auch in der Zeit der DDR immer mitgemeint", sagt Markus Meckel. Als letzter Außenminister der DDR war er 1990 an den Verhandlungen zur Wiedervereinigung führend beteiligt. Das grundgesetzliche Bekenntnis zur deutschen Einheit habe praktische Konsequenzen gehabt. "Wer aus dem Osten geflohen ist oder sogar nur einen Besuch machte, hatte sofort die Möglichkeit den Pass zu bekommen." Jeder DDR-Bürger habe daher sicher sein können, dass er im Westen nicht rechtloser Flüchtling, sondern Staatsbürger gewesen sei.
Zwei Grundgesetz-Artikel für Einheit
Für eine mögliche Wiedervereinigung sah das Grundgesetz seit 1949 konkrete Wege vor - mit zwei Artikeln. Artikel 23 eröffnete die Möglichkeit eines Beitritts weiterer Bundesländer zum Geltungsbereich des Grundgesetzes. Im Januar 1957 wird so das Saarland Teil der Bundesrepublik. Artikel 146 offeriert hingegen - bis heute - eine Vereinigung aller Deutschen mit neuer Verfassung und Volksabstimmung darüber. Nach der politischen Wende in der DDR wird dort intensiv über den angemessenen Weg zur Einheit diskutiert. Vor allem die Bürgerrechtsbewegung - zusammengeschlossen im "Bündnis 90" - ist vehement gegen einen Beitritt nach Artikel 23.
"Kein Anschluss unter dieser Nummer"
Zur ersten freien Volkskammerwahl tritt sie mit der Losung "Kein Anschluss unter dieser Nummer" an. Die Bürgerrechtler wollen eine neue gesamtdeutsche Verfassung, die die Erfahrungen der friedlichen Revolution aufnimmt. Auch Sozialdemokrat Markus Meckel ist anfangs für eine Wiedervereinigung nach Artikel 148. Doch die Wahl im März 1990 verändert seine Sicht. "Das war dann passé, weil die große Mehrheit der Wähler die Parteien gewählt hat, die für den Artikel 23 eingetreten sind." Am 23. August 1990 beschließt das DDR-Parlament schließlich den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland nach Artikel 23 des Grundgesetzes. Mit leicht zittriger Stimme verkündet Volkskammer-Präsidentin Sabine Bergmann-Pohl: "Abgegeben wurden 363 Stimmen. Mit Ja haben 294 Abgeordnete gestimmt." Ende gut - alles gut?
Ostdeutsches Grundgefühl: "Nicht ernst genommen"
Markus Meckel sieht das nicht so. "Das übliche Narrativ der deutschen Einheit ist: 100.000 Menschen auf der Straße in der DDR, die Mauer fällt und Helmut Kohl hat die deutsche Einheit gemacht." Was ihn daran stört: In dieser Sicht seien die Ostdeutschen nicht Subjekt, sondern Objekt der Vereinigung. Das habe Konsequenzen bis heute. "Diese Erzählung bestätigt ein Grundgefühl vieler Ostdeutscher, nicht ernst genommen zu sein.“ Dabei sei der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik ein Ergebnis intensiver Verhandlungen und mehrerer Verträge zwischen zwei demokratischen Staaten gewesen - also kein bedingungsloser Anschluss. Auch wenn sich die ostdeutsche Seite nicht in allen Punkten durchgesetzt habe. "Da lässt sich manches erzählen, wo wir nicht wirklich ernst genommen wurden oder man bestimmte Sachen mit uns gar nicht verhandeln wollte", sagt Markus Meckel im Rückblick.
Volksabstimmung als verpasste Chance?
Trotzdem sieht er die Wiedervereinigung als einen Glücksfall der deutschen Geschichte an. "Man kann sehen, wo wir schlecht behandelt worden sind. Aber es gab natürlich auch das andere: einen großen Gewinn am Ende vereint zu sein." Dass es trotz einer gemeinsam von Bundestag und Bundesrat einberufenen Verfassungskommission Mitte der 90er Jahre zu keiner neuen Verfassung und einer Volksabstimmung kam, findet Markus Meckel nicht tragisch. Anders als seine Parteifreundin Manuela Schwesig. Im Oktober vergangenen Jahres sagte die Ministerpräsidentin Mecklenburg-Vorpommerns im NDR Gespräch, dass es möglicherweise ein Fehler gewesen sei, dass es nach 1990 keine gemeinsame Abstimmung über die Verfassung gab. Eine Sicht, die pünktlich zum 75. Jahrestag des Grundgesetzes auch Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) teilt. Im Interview mit der "FAZ", fordert er nun eine Volksabstimmung: "Weil wir so viele Verschwörungstheoretiker, so viele Reichsbürger und andere Schwurbler haben, die sich alle auf den Artikel 146 beziehen."
"Beste Verfassung, die Deutschland je hatte"
Markus Meckel hält davon wenig: "Wir haben erlebt, dass bei Volksabstimmungen auch in anderen Ländern, gar nicht die gestellte Frage beantwortet wird, sondern Unzufriedenheit mit dem Fragesteller zum Ausdruck gebracht wird." Für ihn selbst ist das Grundgesetz die beste Verfassung, die Deutschland je hatte: "Ich möchte mit keinem Land tauschen." Deshalb wirbt er seit Längerem vehement für ein Streichen des Artikel 146, der die Vorläufigkeit des Grundgesetzes festlegt. Der letzte DDR-Außenminister fordert zudem die Umbenennung des Grundgesetzes in Verfassung. "Das ist ein wichtiger symbolischer Akt. An dem wir dann auch sagen: Dieses Thema ist jetzt befriedet." Sein Wunschtermin: Der 35. Jahrestag der Wiedervereinigung im kommenden Jahr.