Anne Drescher: "Noch kein für alle gültiges Bild der DDR"
Zehn Jahre lang war Anne Drescher Landesbeauftragte in Mecklenburg-Vorpommern für die Aufarbeitung der SED-Diktatur. Nun wird sie verabschiedet. Ein Porträt der Historikerin, die 30 Jahre lang Menschen zuhörte.
Dieses Bild kann Anne Drescher nicht vergessen: weiße Rosen an den Gitterfenstern eines Turms auf dem Gelände des Gefängnisses Butyrka in Moskau. Hände die die Mauer berühren. In dem Gemäuer fanden im Zuge der stalinistischen Säuberungen Erschießungen statt. Nach Schätzungen der Menschenrechtsorganisation Memorial wurden auch 1.000 Deutsche in Moskau hingerichtet. Anne Drescher begleitete seit den 1990er-Jahren Familien bei der Suche nach ihren seit Jahrzehnten vermissten Angehörigen durch die Archive und bis nach Moskau. Zum Gedenken an den Ort, an dem die Verschwundenen und Verhafteten erschossen worden waren. „Das waren sehr berührende Momente, für die Angehörigen ein Schlusspunkt. Sie wussten jetzt den Ort, die Zeit, sie haben auch noch auf dem Donskoje-Friedhof ein Bild hingestellt. Unglaublich beeindruckend, wie man nach so langer Zeit Befriedung in Familien mit so schweren Schicksalen hinbekommen kann.“
Geschichten aus dem GULag als Weichenstellung
Es waren diese weißen Flecken der Vergangenheit, verschwiegene Geschichte aus dem sowjetischen Lagersystem, mit denen Anne Drescher Anfang der 1990er konfrontiert war. 1993 hatte sie sich beworben für die Bürgerberatung in der neu aufzubauenden Behörde des Landesbeauftragten für die Stasiunterlagen in Mecklenburg-Vorpommern. Neben politischen Häftlingen kamen vor allem Menschen, die erstmal von ihrer Verschleppung und Verurteilung vor Sowjetischen Militärtribunalen in Mecklenburg erzählen konnten. „Nun war ein Damm gebrochen, mit der Friedlichen Revolution war Sprechen möglich“, sagt Drescher, die damals “unglaublich beeindruckt“ war. Auch weil sie in der Schule von all dem natürlich nie etwas erfahren hatte, „da war so wenig Wissen!“. Eine persönliche Weichenstellung auch für Drescher, die seither intensiv an der Erforschung von Verschleppungen und Verurteilungen gearbeitet, Rehabilitierungsverfahren begleitet hat und auch die Zeitschrift „GULag und Gedächtnis“ mit Beiträgen zur deutsch-russischen Geschichte zum Lagersystem mit herausgibt. Eine von über 70 Publikationen der Landesbeauftragten seit 1993.
Stand der Aufarbeitung in Deutschland und Russland
Bis zu 35.000 deutsche Zivilisten waren von der frühen Verfolgung der Stalinzeit betroffen, seit 1993 konnten sie Dank eines Abkommens von einer Militärstaatsanwaltschaft rehabilitiert werden. Seit Putins Machtantritt, so Drescher, seien diese Möglichkeiten eingeschränkt. Seit einigen Jahren gäbe es keine Auskünfte aus russischen Archiven mehr. Dass in Russland jetzt wieder Haftstrafen von 25 Jahren auch zu Arbeitslager beispielsweise für Meinungsäußerungen verhängt werden könnten, für sie eine absehbare Entwicklung. Eine mit Parallelen zum Stalinismus in der Frühzeit der DDR. Im Vergleich mit anderen postsozialistischen Ländern, sei die Aufarbeitung der Diktatur meint sie, „ist das schon enorm, was in Deutschland geleistet wurde“. Dazu zählten die Regelungen zur Einsicht in die Unterlagen der Geheimpolizei und weitreichend Möglichkeiten für Betroffene rehabilitiert zu werden.
Pfarrerstocher, Krankenschwester, Historikerin
Am Anfang war es für die Betroffenen in der Beratung wichtig gewesen, mit wem sie über ihr Schicksal sprechen. Vertrauen genoss Drescher auch deshalb, weil sie aus der Bürgerbewegung kam. 1984 hatte sie in Schwerin „Frauen für den Frieden“ mitbegründet und war von 1986 an Mitglied der Arbeitsgruppe „Frieden“ der Mecklenburgischen Landeskirche und gut vernetzt in verschiedenen Basisgruppen. In fast allen Beratungsgesprächen sei sie zuerst gefragt worden, ob sie einen kirchlichen Hintergrund habe. Das habe dann einen „Vertrauensbonus“ gegeben. Für Drescher, 1962 in Lübz geborene Pastorentochter, sei immer klar gewesen: Nach 10 Klassen sei in der DDR für sie Schluss gewesen. Ohne Mitgliedschaft in der FDJ: keine Aussicht auf das Abitur oder ein Studium. Stattdessen wurde sie Krankenschwester, arbeitete im Bezirkskrankenhaus Schwerin. Wenn sie später bei Projekttagen an Schulen war, habe sie manchmal gedacht: „Mein Gott, ich kann natürlich über das Funktionieren einer Diktatur und Geheimdiensten etwas erzählen. Aber ansonsten haben die hier eine viel längere Schulausbildung!“. Berufsbegleitend hat Drescher dann alles nachgeholt, an der Fernuniversität Geschichte und Philosophie studiert, war froh über diese Möglichkeit. Zehn Jahre habe sie für das Studium gebraucht. „Schneller ging es aber auch wirklich nicht“, mit dem Fulltime-Job in der Behörde.
Zeitzeugenschaft ist nicht immer gleich
Als Anne Drescher schließlich 2013 vom Landtag Mecklenburg-Vorpommern in das Amt der Landesbeauftragten gewählt wurde, sagte sie in einem Interview“: Wir haben eine eklatante Zunahme des Unwissens , was die Geschichte der DDR betrifft“. Zehn Jahre später meint sie zum Abschied, daran habe sich nichts geändert. Es gebe bis heute kein gemeinsames, sinnstiftendes Bild über die DDR. Es brauche wahrscheinlich mehr Zeit als 30 Jahre, um ein Geschichtsbild der DDR zu entwickeln, das für alle gültig sein könnte, meint Drescher. Klar sein müsse, was waren Menschenrechtsverletzungen? Was war Unrecht? Dass sich alle gleich erinnern, hält sie für ausgeschlossen. Auch weil ihr in vielen Debatten sehr positive Erinnerungen entgegenschlagen, die mit anderen Erlebnissen und auch fiktionalen Erzählungen verwoben seien. Nicht zuletzt auch mit der Sehnsucht nach Gemeinsamkeit und einer Gesellschaft, in der alles geregelt war, „wo ich immer sage: Wenn Euch der Subbotnik fehlt, warum macht ihr das dann nicht jetzt? Was hindert Euch daran, dieses Gemeinsame wiederzubeleben?“, so Drescher. Erinnerungen müssen immer eingeordnete werden, sagt sie. Und Zeitzeugenschaft allein sei nicht immer gleich.
Die Themen haben sie gefunden
Regionale Aufarbeitung und Forschung, Beratung und Bildung - das war seit 30 Jahren Aufgabe der Landesbeauftragten und ist es bis heute. Nur mit den persönlichen Geschichten der Menschen aus Mecklenburg-Vorpommern sei diese Aufgabe möglich, ist Drescher überzeugt. Das Tolle und Spannende an ihrer Arbeit war, dass es anfangs überall Leerstellen gab. „Wir hatten schon immer Heimkinder in der Beratung“, erzählt Drescher. „Ich hatte auch 1996 eine Mutter, die zu mir gekommen ist, weil sie wissen wollte, was mit ihrer verstorbenen Tochter passiert ist. Sie war Teil dieses Sportsystems und die Mutter hatte Tabletten gefunden.“ Damals war noch nicht viel bekannt über das Dopingsystem in der DDR. „Die Themen haben wir uns ja nicht ausgesucht, sondern die kamen zu uns." Und noch heute gibt es Familien, die Anne Drescher begleitet hat, weil ein Angehöriger in sowjetische Arbeitslager verschleppt wurde.