Rostock: 180 Jahre "Rettungshaus für verwahrloste Knaben"
Ist unsere Gesellschaft wirklich behindertenfreundlicher geworden? Ekkehard Maase, theologischer Direktor des Rostocker Michaelshofes, ist sich da nicht so sicher. Er hat an einer Chronik zum 180. Jubiläum der Einrichtung mitgeschrieben.
"Am Anfang waren es vor allem Straßenkinder, denen die Gründer des Michaelshofes helfen wollten", erzählt Pastor Maase. Denn von denen habe es in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts viele gegeben. Zu Zeiten der Industrialisierung flohen gerade in dem von großen Gutshöfen geprägten Umland Rostocks zahlreiche Menschen aus der ländlichen Armut in die Stadt. Großfamilien verloren ihre Bedeutung, die Erbuntertänigkeit, die auch eine Versorgungspflicht beinhaltete, war aufgehoben. Im Angesicht der Not taten sich Rostocker Christen zusammen und gründeten mit Unterstützung des Bürgermeisters, des Rektors der Universität und des Großherzogs ein „Rettungshaus für verwahrloste Knaben“ - ein bisschen außerhalb der Stadtmauern, versteht sich, im kleinen Michaelsdorf auf der anderen Seite der Warnow. Nach und nach wurde die Einrichtung erweitert. Es kam ein Wohnbereich für sozial benachteiligte Mädchen dazu, später verlagerte sich der Schwerpunkt auf Menschen mit Behinderungen. Inzwischen ist daraus eine Institution geworden – in der alles in allem rund 2.400 Menschen leben, lernen und arbeiten.
Chronik frisch aus dem Druck
Die Chronik zum 180. Geburtstag des Michaelshofes ist frisch aus dem Druck, sie riecht noch nach Farbe. In ihr sind nicht die Vorstände der evangelischen Stiftung aufgelistet, es geht um die Menschen, die auf dem Areal im heutigen Stadtteil Gehlsdorf gelebt und gearbeitet haben, um die guten und um die finsteren Zeiten der Einrichtung. Herausforderungen habe es im Laufe der Geschichte viele gegeben, sagt Pastor Maase. Er erzählt von den Wirren der Revolution kurz nach der Gründung, von der Zeit des Nationalsozialismus, als Bewohner des Michaelshofes für medizinische Experimente missbraucht und ermordet wurden. Und von der einfachen Pflegeschwester Eva Semp, die in den 1950er Jahren dort arbeitete.
Die „Erbärmlichkeit unseres Denkens“
Der zweite Weltkrieg war gerade zu Ende, die Rede vom "unwerten Leben" noch nicht verhallt, als die Mitarbeiter des Michaelshof anfingen, sich nur noch um Kinder und Jugendliche mit Behinderungen zu kümmern - weil das DDR-Regime der kirchlichen Einrichtung alle anderen Bereiche aus der Hand genommen hatte. Eva Semp schrieb damals in einem Tagebuch: „Die Meinung vom 'lebensunwerten Leben' wollen wir gleich einmal ganz krass abtun. Was wissen wir armseligen Menschen überhaupt von dem Wert und Unwert eines Lebens? Ist denn ein Leben, das sich in der Sorge um den nächsten Tag, das Zusammenraffen von Reichtum oder Wissen erschöpft, so viel mehr wert? Ich meine, wir wissen es nicht. Wie können wir uns da ein Urteil anmaßen?“ Sie ist erbost über die "Erbärmlichkeit unseres Denkens", die spätere Generationen sicher erschrecken werde.
Frage des Glücks entscheidet sich nicht an einer Behinderung
Pastor Maase bedauert mit Blick auf die heutige Gesellschaft: "Wenn ich an die Debatte über pränatale Diagnostik denke und die Möglichkeit, dass Menschen mit Behinderung gar nicht erst ins Leben kommen, dann sind die Themen eigentlich nicht sehr viel anders als in den 50er Jahren." Dabei entscheide sich die Frage des Glücks im Leben nicht an einer Behinderung - was jeder zu spüren bekommt, der in Schule, Wohnhäusern und Werkstätten des Michaelshofes unterwegs ist. Tim Schwarck ist als Schüler dorthin gekommen, hat heute einen festen Arbeitsplatz in der Kabelmontage und kümmert sich im Werkstattrat um alles, was seinen Kollegen auf der Seele liegt. Er ist sich sicher: "Für viele Leute, die hierher kommen, ist das sowas wie ein zweites Zuhause - mit der Möglichkeit, Leute kennen zu lernen und Sozialkontakte zu knüpfen."
