Kommentar: Pistorius geht gestärkt in eine Mammutaufgabe
Pannen-Panzer, ausufernde Bürokratie, mangelnde Einsatzbereitschaft - und das alles im Schatten des Ukraine-Krieges: Der neue Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) steht vor riesigen Herausforderungen.
Die Meinung von Ulrich Schönborn, Chefredakteur der "Nordwest-Zeitung" (NWZ)
Mit der Ernennung von Boris Pistorius zum Bundesverteidigungsminister ist Kanzler Olaf Scholz (SPD) ein Coup gelungen. Die ersten Reaktionen zeigen überwiegend Lob und Zustimmung. Wer Pistorius' Berufung kritisiert, muss sichtlich nach Gründen suchen. Das vor allem angeführte Argument, er sei kein Militär-Fachmann, ist eher schwach. Der Verteidigungsminister ist nicht nur Oberbefehlshaber der Bundeswehr, sondern auch und vor allem Politiker und Behördenmanager.
Natürlich wird Pistorius mit Blick auf die Ukraine auch Kriegsminister. Viele hätten sich deshalb einen hohen Militär gewünscht, der seine Kompetenz und Autorität gegebenenfalls mit Einsatzerfahrung und Orden behängter Uniform unterstreichen kann - so wie zum Beispiel gern der US-Verteidigungsminister und pensionierte General Lloyd J. Austin III. inszeniert wird. Doch im Schatten des furchtbaren russischen Angriffskriegs in der Ukraine muss Pistorius Aufgaben bewältigen, die weit über militärische Strategien hinausgehen. Er übernimmt eine Bundeswehr, die sich in der Diskussion über Waffenlieferung selbst das Zeugnis ausgestellt hat, "blank" zu sein, wie es der Generalleutnant und Heeresinspekteur Alfons Mais kurz nach Ausbruch des Krieges ausdrückte.
Komplette Neuausrichtung des Kurses steht an
Pistorius übernimmt ein bürokratisch aufgeblähtes und gleichzeitig ineffektives Beschaffungswesen, das peinliche Schlagzeilen am laufenden Band produziert - von Hubschraubern, die nicht fliegen, von U-Booten, die nicht tauchen, von Gewehren, die nicht gerade schießen, zuletzt von Panzern, deren Probefahrt in einer Pannenserie endet.
Er muss die Attraktivität der Truppe als Arbeitgeber sichern - in Zeiten, in denen seit Gründung der Bundeswehr eine Verpflichtung zum Dienst an der Waffe noch nie so stark mit realer Kriegsgefahr verknüpft war. Unsere Werte und unsere Freiheit müssen nicht mehr fern am Hindukusch verteidigt werden, sondern mitten in Europa, direkt vor unserer Haustür. Nach jahrelangem verteidigungspolitischem Abrüstungskurs bedeutet das eine komplette Neuausrichtung.
Pistorius ist bekannt für Konsequenz und klare Linien
Der Schlüssel zur Bewältigung der Probleme, die ihm seine Vorgängerinnen und Vorgänger hinterlassen haben, liegt nicht primär in den Kasernen, sondern in Ministerien, Behörden und im Parlament. Pistorius ist bekannt für Konsequenz, klare Linien und sein dickes Fell im Umgang mit politischen Gegnern. Als langjähriger Innenminister in Niedersachsen weiß er, wie Ministerien und Behörden ticken. Gleichzeitig steht er nicht in Verdacht, beratungsresistent zu sein. Und ganz wichtig: Er braucht das Amt nicht, um sich zu profilieren. Anders als bei seiner gescheiterten Vorgängerin Christine Lambrecht ist seine Ernennung kein Resultat von Parteiproporz, Quotenregelungen und Postengeschacher in mühsamen Koalitionsverhandlungen. Das stärkt ihn für die Mammutaufgabe.
Wird Pistorius den Vorschusslorbeeren gerecht?
Im Übrigen hat uns die Corona-Krise gelehrt, dass tiefes Fachwissen allein politische Entscheidungen nicht zwingend besser macht. Die Konzentration auf die Expertise einzelner Virologen bei der Pandemie-Bekämpfung erweist sich im Nachhinein als zumindest diskussionswürdig. Die Corona-Krise hat den Mediziner Karl Lauterbach (SPD) an die Spitze des Gesundheitsministeriums gespült. Dass er mit seiner medizinischen Kompetenz die Gesundheitspolitik in Deutschland voranbringt, ist nicht zu sehen.
Doch auch Pistorius muss nun beweisen, dass er den Vorschusslorbeeren gerecht wird. Eine Schonfrist hat er nicht. Die inneren Probleme der Bundeswehr und der Verteidigungspolitik sind eng verknüpft mit der drängenden Frage, wie der Ukraine militärisch geholfen werden kann - mit einsatzfähigen Waffen, mit Nachschub, mit Ausbildung. Aber auch mit militärischer Stärke Deutschlands im NATO-Bündnis.
Entscheidungen mit Bedacht sind gefragt
Kanzler Scholz wird seinen Weggefährten auch deshalb in das Amt berufen haben, weil er sich Unterstützung bei seiner abwägenden Strategie mit Blick auf deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine erhofft. Die CDU hat - mit Schützenhilfe der Regierungspartner FDP und Grüne - den Kanzler und seine schwache Verteidigungsministerin hier viel zu lange vor sich hergetrieben. In der politischen Debatte bringt das Aufmerksamkeit, besonders aus der bequemen Position der Opposition heraus. In der Verantwortung für die Folgen solcher Entscheidungen geht es aber um mehr: Die Lieferung schwerer Offensiv-Waffen in ein Kriegsgebiet eignet sich nicht für Aktionismus und Symbolpolitik und muss mit Bedacht entschieden werden.
Heikle Grenze zwischen militärischer Unterstützung der Ukraine und eigenem Kriegseintritt
Neben der "Zeitenwende" für die innerdeutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik liegt hier die zweite immense Herausforderung für den neuen Minister: Wie kann die Forderung der aufopferungsvoll um ihre Freiheit und ihr Überleben kämpfenden Ukraine nach militärischer Unterstützung in Einklang gebracht werden mit der Erfordernis, dass Panzer und Raketenwerfer nicht nur geliefert, sondern auch bedient, munitioniert, gewartet, repariert und sinnvoll im Verbund mit anderen Waffensystemen eingesetzt werden müssen? Welche Ziele verfolgt die Ukraine genau mit diesen Waffen? Und wie gelingt es, hier die heikle Grenze zwischen militärischer Unterstützung der Ukraine und eigenem Kriegseintritt weiter zu wahren?
Unter hohem politischem Druck muss sich Boris Pistorius nun diesen Fragen und der Verantwortung stellen, die seine Vorgängerin nie glaubhaft übernommen hat.
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