Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer - jeweils in schwarzen Mänteln. © picture alliance/dpa | Rolf Vennenbernd

Kommentar: "Manifest für den Frieden" ist weder naiv noch unmoralisch

Stand: 18.02.2023 13:24 Uhr

In ihrem "Manifest für den Frieden" warnen Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer vor einer Eskalation im Ukraine-Krieg durch Waffenlieferungen des Westens - der Krieg müsse stattdessen am Verhandlungstisch beendet werden. Mehr als 500.000 Menschen haben bereits unterschrieben, doch die Verfasserinnen werden auch heftig kritisiert.

Ein Kommentar von Heribert Prantl, Kolumnist und Autor der "Süddeutschen Zeitung"

Der Schriftsteller Heinrich Böll war ein gewaltig-friedlicher Streiter gegen militärische Gewalt. Er war aber kein Träumer. Er wusste, dass man einen Diktator nicht weg beten kann. Es wusste aber auch, dass militärische Gewalt niemals den Frieden bringt. Panzer, Haubitzen, Granaten und Raketen können tödliche Bedrohung abwenden, sie können dem Verbrechen Einhalt gebieten und der Tyrannei ein Ende setzen. Aber Frieden bringen, das können sie nicht.

Scharf geladene Zeigefinger ausgerechnet bei den Grünen

Porträtbild des Journalisten Heribert Prantl. © picture alliance / Sven Simon Foto:  Anke Waelischmiller/SVEN SIMON
Man kann und soll Verhandlungsbereitschaft auch herbeiverhandeln, meint Heribert Prantl.

Heinrich Böll war ein Gegner der Abschreckung, weil sie auf Voraussetzungen fußt, die niemand kontrollieren kann; deshalb warnte er vor einer Eskalationsspirale. Das war zur Zeit des Kalten Krieges. Die Warnung gilt im heißen Ukraine-Krieg auch und erst recht. Böll hat damals viel Kritik einstecken müssen. Bei der Verleihung des Literaturnobelpreises sagte er in seiner Dankesrede, er sei durch einen "dichten Wald von deutschen Zeigefingern" marschiert. Und "gar manche Zeigefinger waren scharf geladen." Das ist jetzt gut fünfzig Jahre her. Heute gibt es die scharf geladenen Zeigefinger vor allem in der Parteistiftung der Grünen, die den Namen von Heinrich Böll trägt.

500.000 Menschen unterzeichnen Petition von Schwarzer und Wagenknecht

Durch den Wald von scharf geladenen Zeigefingern gehen heute Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht. Sie haben ein "Manifest durch den Frieden" verfasst, das mittlerweile eine halbe Million Menschen in Deutschland unterzeichnet haben. Zu den 69 Erstunterzeichnern gehören so verschiedene Leute wie der CSU-Politiker Peter Gauweiler und der Historiker Peter Brandt von der SPD, die Theologin Margot Käßmann, frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands, die Theologin Antje Vollmer von den Grünen, frühere Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, dazu der Musiker Reinhard Mey und der SPD-Politiker Günter Verheugen, der Ex-Vizepräsident der EU-Kommission. Ihr Manifest warnt vor einer Eskalation im Ukraine-Krieg, es warnt vor einer "Rutschbahn Richtung Weltkrieg und Atomkrieg", es macht sich stark dafür, den Krieg am Verhandlungstisch zu beenden. Das Manifest fordert den Bundeskanzler auf, sich "an die Spitze einer starken Allianz für einen Waffenstillstand und für Friedensverhandlungen" zu setzen.

"Manifest für den Frieden" versucht, dem Grundgesetz gerecht zu werden

Kurz gesagt: Das Manifest versucht, dem Grundgesetz gerecht zu werden. Das Grundgesetz ist keine pazifistische Verfassung, es ist aber eine sehr friedliebende Verfassung. Es enthält ein Friedensgebot, nämlich die Verpflichtung, "dem Frieden der Welt zu dienen." Alle Grundrechte, auch die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Freiheiten, sind um des Friedens willen entstanden. Wenn einer deshalb den Frieden ernst nimmt und den richtigen Weg zu diesem Frieden sucht, ist das ernst zu nehmen auch dann, wenn man selbst einen anderen Weg für richtig hält.

Man muss diskutieren über Fundamentalfragen

Das Manifest von Schwarzer und Wagenknecht wird von denen, die noch mehr und noch schnellere Waffenlieferungen an die Ukraine fordern, schwer gescholten - dass das Manifest "naiv" sei, ist noch der harmloseste der Vorwürfe. Die Lieferung von Leopard-Panzern, von Kampfflugzeugen und Langstreckenraketen sei alternativlos, behaupten Kritiker des Friedensmanifests. Aber wer in der Demokratie Alternativlosigkeit behauptet, der will in Wahrheit, die Wahrheit für sich pachten und setzt sich selbst ins Unrecht, weil er damit sagt, dass er nicht diskutieren will. Man muss aber diskutieren, man muss um den richtigen Weg ringen, weil es um Fundamentalfragen geht. Und wenn über den richtigen Weg zum Frieden gerungen wird, darf man dabei nicht rhetorisch Krieg führen. Der Politologe Herfried Münkler nennt den Friedensaufruf "gewissenlos". Das fällt auf ihn selbst zurück.

Wer vor Eskalation warnt, ist nicht töricht und feige

Unsere Diskussionen müssen sich unterscheiden von der Logik machtvoller Überwältigung, bösartiger Unterstellung und hasserfüllter Abwertung derer, die anderer Meinung sind. Es ist sonderbar, wenn Kriegsrhetorik als Ausdruck von Moral aber Friedensrhetorik als Ausdruck von Unmoral bewertet wird. Es ist nicht gut, wenn die Leute, die für Eskalationsbereitschaft werben, als klug und mutig, und diejenigen, die vor einer Eskalationsspirale warnen, als töricht und feige bezeichnet werden. Es ist fatal, wenn Wörter wie Kompromiss, Waffenstillstand und Friedensverhandlungen als Sympathiekundgebungen für Putin gelten und so ausgesprochen werden, als wären sie vergiftet.

Verhandeln komme, so heißt es von den Gegnern des Manifests für den Frieden, schon deswegen nicht in Betracht, weil es keine Verhandlungsbereitschaft der Kriegsparteien gebe. Das ist gefährlicher Fatalismus. Man kann und soll Verhandlungsbereitschaft auch herbeiverhandeln. Dieser Plan ist viel aussichtsreicher als der Plan, Frieden herbeizubomben.

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

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NDR Info | Kommentar | 19.02.2023 | 09:25 Uhr

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