Zu viel Zeit vor dem Screen: Online-Therapie bei Online-Sucht
Kann eine Online-Sucht online behandelt werden? Ja - und zwar sehr wirksam. Eine in Schleswig-Holstein entwickelte Therapie-App zeigt gute Ergebnisse. Immer mehr Psychologen nehmen den Weg über den Bildschirm, um Patienten mit einer Internet-Abhängigkeit zu helfen.
Fast jeder Aspekt unseres Lebens verlagert sich auch an den Computer oder das Handy. Die Arbeit, der Kontakt mit Freunden und Familie, unsere Unterhaltung und sogar der Sport. Für die meisten Menschen sind inzwischen mehrere Stunden Online-Zeit pro Tag die Norm. Das Problem: All diese Stunden am Bildschirm können unser Gehirn beeinflussen. Es möchte dann womöglich immer mehr Stimulation und Reize. Auf Dauer kann das bei manchen Menschen zu einer Online-Sucht führen. Zwischen zwei und fünf Prozent der Bevölkerung sind davon schon jetzt betroffen, sagt Hans-Jürgen Rumpf, Psychologe am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein.
Bis zu fünf Prozent sind onlinesüchtig
Zuletzt zeigte eine große Studie im Jahr 2011 ein Suchtverhalten bei ungefähr einem Prozent der Internet-Nutzerinnen und -Nutzer. Seit dieser Untersuchung haben sich sowohl Computer- und Smartphone-Anwendungen als auch die sozialen Netzwerke immer weiter in unseren Alltag gedrängt. Aber für viele der Menschen, die Symptome eines Suchtverhaltens entwickeln, ist der Weg in eine Praxis keine Option. Denn auch wenn sie das Problem wahrnehmen und eine Therapie suchen: Die Hemmschwelle, eine Praxis aufzusuchen, ist für viele zu hoch. In Lübeck leitet der Psychologe eine Suchtforschungsgruppe.
Seit Jahren untersucht er, wie sich das Online-Verhalten von Erwachsenen und Jugendlichen verändert. Anfangs ging es meist um Computerspiel-Sucht. In den letzten zehn Jahren haben sich die Suchtprobleme in anderen Bereichen und bestimmten Gruppen verschärft, so Rumpf - und bei Jugendlichen sogar verdoppelt bis verdreifacht.
Kontrollverlust über viele Monate
Bei einer Online-Sucht kommen drei Faktoren zusammen: Ein Kontrollverlust über die Zeit am Bildschirm und neue Prioritäten. Das heißt: Online sein wird dann wichtiger als andere Dinge - zum Beispiel der Job oder die Familie. Der dritte Faktor ist der Langzeit-Trend: Das Verhalten zeigt sich über viele Monate, obwohl der Person klar ist, dass es schädlich ist. Nicht nur die Likes oder die Adrenalin-Schübe eines Ballerspiels können süchtig machen. Auch die endlos verfügbaren flüchtigen Videos bei TikTok oder Instagram halten uns oft länger im Bann der Apps, als wir eigentlich wollen. Gegen diese Reize anzukommen, ist nicht einfach - schon gar nicht für Menschen, die tatsächlich ein Suchtverhalten entwickeln und immer tiefer in der digitalen Welt verschwinden.
Online-Therapie kommt an
Um diese Patienten zu erreichen, haben Psychologen einen auf den ersten Blick paradoxen Ansatz entwickelt: Die Online-Therapie für onlinesüchtige Menschen. Per Computer oder Smartphone: In nur wenigen Wochen lernen die Patientinnen und Patienten, ihr Suchtverhalten zu reflektieren und Schritt für Schritt zu verändern. Das tut zum Beispiel die "smart@net"-App, die Hans-Jürgen Rumpf und sein Team entwickelt haben. Vier Wochen lang führte sie während ihrer Erprobungsphase die Patienten durch Fragen und Hausaufgaben. So konnten sie ihr Verhalten besser reflektieren, erklärt der Arzt: "Was finde ich gut daran, das Internet oder meine Anwendungen zu nutzen? Was sind kritische Bereiche?"
App mindert Suchtverhalten
Die Therapie wurde wissenschaftlich begleitet. An der sogenannten SCAVIS-Studie beteiligten sich mehr als 1.200 Menschen und sie zeigte: Die vierwöchige App-Begleitung, kombiniert mit zwei therapeutischen Telefonaten und einer Online-Verhaltenstherapie für manche Teilnehmer*innen minderte das Suchtverhalten der Patienten. Mitglieder der Kontrollgruppe, die nur eine Präventions-App nutzten, hatten mit mehr als doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit Symptome psychischer Störungen. Die App- und Online-Therapie half vor allem denjenigen, deren Suchtverhalten noch nicht allzu stark ausgeprägt war. Momentan wird über die zukünftige Finanzierung der App entschieden.
Auch das OMPRIS-Therapiemodell der Bochumer LWL-Universitätsklinik für psychosomatische Medizin und Psychotherapie zeigt markante Erfolge. Hier sind die Patienten per Computer im Gespräch mit den Therapeuten, erklärt Facharzt Jan Dieris-Hirche. Das Programm läuft ebenfalls vier Wochen lang, mit zwei Psychotherapie-Sitzungen pro Woche und zusätzlicher Sozialberatung. Da kann es um Schulden gehen oder auch um betreutes Wohnen, wenn jemand durch die Onlinesucht seine Wohnung verloren hat.
15 Wochenstunden weniger online
In dieser kurzen Zeit führte die Therapie zu erstaunlichen Veränderungen. Bevor sie begann, waren die Patienten durchschnittlich 43 Stunden pro Woche online. Nach den vier Wochen verbrachten sie im Schnitt fast 15 Wochenstunden weniger am Bildschirm. Und dabei blieben sie auch - selbst zwei Jahre später, so Jan Dieris-Hirche. Das zeigen mehrere Nachuntersuchungen. Schon im Herbst 2025 könnte das Projekt deutschlandweit ausgerollt werden. "Unsere Kosten-Nutzen-Rechnung hat den Gemeinsamen Bundesausschuss überzeugt. Jetzt wird innerhalb des Ausschusses überprüft, wie diese Intervention innerhalb des Kassensystems finanzierbar ist. Das ist natürlich als Forschender ein kleiner Traum."
Therapie-App für Schüler
Unterdessen entwickelt das Team um Hans-Jürgen Rumpf in Lübeck eine weitere Therapie-App, speziell für Schüler und Schülerinnen. Denn bei den 12- bis 17-Jährigen hat sich das Auftreten von Problemen im Zusammenhang mit ihrer Computer- und Internetnutzung seit 2011 verdoppelt. Das zeigen Statistiken der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aus dem letzten Jahr. Zu diesen Problemen zählen unter anderem Kontrollverlust, Entzugssymptome und Eingenommenheit.
Für eine Online-Sucht gibt es übrigens Frühwarn-Symptome, so Rumpf. Eigene Unzufriedenheit mit dem endlosen Scrollen oder stundenlangen Spielen zum Beispiel. Diese Gefühle sollte man ernst nehmen. Dann könnten schon ein paar einfache Maßnahmen dabei helfen, die Online-Zeit zu reduzieren: "Eine Möglichkeit ist, sich bestimmte Zeiten zu setzen oder zeitliche Begrenzer auf dem Smartphone zu haben. Man kann das Display auch schwarz-weiß machen, also in Grautönen - da zeigt die Forschung, dass es dann weniger interessant ist." Ein weiterer Tipp: Immer wieder ins normale Leben eintauchen, rät Jan Dieris-Hirche, der Bochumer Facharzt. Das hilft auch seinen Patienten aus der Online-Therapie. "Was tut mir gut? Was habe ich vernachlässigt durch das ewige Computerspielen? Es kann sein, dass jemand seinen Freund nach sechs Monaten das erste Mal anruft und sagt: Hey, wollen wir ins Kino gehen?"