Ein Urban-Mining-Projekt in Heidelberg © NDR Info
Ein Urban-Mining-Projekt in Heidelberg © NDR Info
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AUDIO: Urban Mining: Aus alt bau neu! (40 Min)

"Urban Mining": Wenn alte Häuser als Rohstoff-Lager dienen

Stand: 10.11.2024 17:00 Uhr

In der Regel werden alte Gebäude einfach abgerissen - und der Bauschutt wird entsorgt. Beim "Urban Mining" hingegen werden von Häusern viele Teile und Rohstoffe wiederverwendet. Ein Projekt in Heidelberg will zeigen, wie das im großen Stil funktionieren könnte. Ist es ein Vorbild für den Norden?

von Astrid Kühn, Susanne Tappe und Marc-Oliver Rehrmann

Jürgen Odszuck hat früher selbst als Bauarbeiter sein Geld verdient. Mauern, Fußbodenlegen, Fenster einbauen - das volle Programm. Inzwischen hat er Architektur studiert und ist Erster Bürgermeister von Heidelberg. Er ist auch zuständig fürs Baudezernat. Sein Herzensprojekt ist, einen verlassenen Stadtteil der US-Army für die Zukunft fit zu machen. Die alten Gebäude sollen nicht einfach abgerissen werden. Vielmehr will Odszuck möglichst viele der Baumaterialen wiederverwenden.

Riesige Mengen Bauschutt statt Recycling

Es ist das größte "Urban Mining"-Projekt Europas. Gemeint ist mit dem Begriff "Urban Mining": Ausgediente Gebäude werden als Quelle für wertvolle Baustoffe gesehen - und nicht als Fall für die Müllhalde. Das ist gut für die Nachhaltigkeit und fürs Klima. Laut Statistischem Bundesamt produziert Deutschland bislang im Jahr pro Kopf rund 2.760 Kilogramm Bauschutt. Zum Vergleich: Das ist zwölf Mal so viel wie der Verpackungsmüll, der in Deutschland anfällt. Die Baubranche ist also ein großer Verursacher vom klimaschädlichen CO2. Denn aktuell wird zu wenig recycelt und zu viel Baumaterial neu produziert.

Was ist eigentlich "Urban Mining"?

Den Begriff "Urban Mining" könnte man einfach mit "Rohstoff-Abbau in der Stadt" übersetzen. Gemeint ist zum Beispiel: die in Gebäuden verbauten Materialien wiederzuverwenden, anstatt ein Haus nur abzureißen und als Bauschutt zu entsorgen. So können unter anderem Ziegelsteine, Heizkörper und Fenster ein "zweites Leben" in einem anderen Gebäude haben. Der Unterschied von "Urban Mining" zu Recycling ist, dass Recycling Wiederverwertung bedeutet, also Rohstoffe einzuschmelzen und daraus etwas Neues herzustellen - wie etwa bei Glasflaschen. Bei "Urban Mining" geht es eher um Re-Use, also die Wiederverwendung von Materialien.

Ein ganzer Stadtteil wird ausgeschlachtet

Jürgen Odszuck, Erster Bürgermeister in Heidelberg © NDR Info Foto: Astrid Kühn
Ein Vorbild für andere Städte: Jürgen Odszuck will zeigen, wie "Urban Mining" im großen Maßstab funktionieren kann.

Schon als Bauarbeiter hat es Jürgen Odszuck gestört, dass so viel weggeschmissen wird. "Da wurde zum Beispiel ein Stück Wärmedämmung verwendet, der Rest flog auf die Seite. Ich habe mal bei einem Neubau riesige Mulden gesehen, die mit lauter Abfällen voll waren, was aber eigentlich neues Material war. Da habe ich gedacht: Das kann man doch so nicht machen."

In Heidelberg geht es nun um die Wiederverwendung eines ganzen Stadtteils. Konkret um 250 Gebäude mit insgesamt 1.400 Wohnungen, in denen bis ins Jahr 2013 Angestellte der US-Armee lebten. Das Gebiet umfasst 100 Hektar - und ist damit fast so groß wie die Heidelberger Altstadt. Klar ist: Die Gebäude im "Patrick-Henry-Village", in denen der Schnitt der Wohnungen nicht in die heutige Zeit passt, sollen abgerissen werden. Aber der Bauschutt soll nicht einfach entsorgt werden. Vorgesehen ist, dass 90 Prozent des Baumaterials weiter genutzt oder recycelt werden. Das hat in diesem Maßstab noch niemand gemacht.

Einige sagen: Das geht gar nicht

Und deshalb sagen auch manche: So etwas sei gar nicht möglich. Das hält Odszuck aber nicht davon ab, das Projekt anzugehen. "Vor einem halben Jahr hat noch jeder gesagt, dass Fenstergläser nicht recycelbar sind. Damit könne man nichts mehr anfangen", erzählt der Bau-Experte im NDR Info Podcast "Mission Klima - Lösungen für die Krise". "Aber inzwischen gibt es einen Markt dafür. Das Wiederverwenden von Baustoffen ist eine große Welle gerade - und ich sehe mit großer Freude, wie viele Leute darauf reiten." Die Stadt Heidelberg will neuen Wohnraum für 10.000 Menschen schaffen.

"Es ist natürlich ein großes Experiment. Das muss man sagen. Aber unsere These ist: Es lohnt sich, wenn unsere Währung CO2 ist und nicht Euro." Jürgen Odszuck, Erster Bürgermeister von Heidleberg

500 Kloschüsseln, 300 Küchen und unzählige Steckdosen

Ein Urban-Mining-Projekt in Heidelberg © NDR Info
In der verlassenen Wohnsiedlung der US-Armee sind viele Bauteile vorhanden, die wiederverwertet werden können.

Noch stehen die alten Gebäude für die US-Soldaten. Erst einmal geht es darum, digital zu erfassen, welche Gegenstände vorhanden sind. Im Idealfall soll jede Tür, jede Türklinke, jedes Holzbrett am besten so ausgebaut werden, dass es in einem anderen Gebäude wieder genutzt werden kann - entweder bei Neubauten auf dem selben Gelände oder in der Umgebung.

Das Gebot Nummer eins lautet für Jürgen Odszuck: die Nutzungsdauer von Bauteilen zu verlängern. "Wir haben hier 500 Toilettenschüsseln, 300 Küchen und eine große Zahl an Waschbecken, Ausbaumöbeln, Steckdosen", sagt Odszuck. "Dafür überlegen wir uns: Wie können all die Sachen weiter verwendet werden?" So könnten zum Beispiel Heizkörper ohne Weiteres noch 50 Jahre lang an anderer Stelle für Wärme sorgen.

Das Recyceln ist mühsamer als ein Abriss

Der Aufwand ist dabei größer als bei einem traditionellen Abriss. Eine Holztür auszubauen, ohne dass sie beschädigt wird, ist viel schwieriger, als sie einfach rauszunehmen und in den Müllcontainer zu schmeißen. Das weiß auch Odszuck. "Klar, das wird zunächst mehr kosten. Aber an anderer Stelle wollen wir durch das Recycling Kosten einsparen, weil keine neuen Materialien gekauft werden müssen. Und so hoffen wir, dass sich das - über das ganze Projekt gesehen - in die Balance findet." Immerhin fallen die Kosten für die Entsorgung des ganzen Bauschutts beim "Urban Mining" weitgehend weg.

Die Hälfte des Materials ist Beton

Für die Wiederverwertung von Ziegelsteinen und Betonen ging es zunächst darum, herauszufinden, welches Material einst verbaut worden ist und welche Mengen. Dafür führte ein Experten-Team Bohrungen in den Hauswänden durch. Dabei zeigte sich beispielsweise, wie die Ziegelsteine beschaffen sind und welches Material zum Dämmen verwendet worden ist. "Die Berechnungen haben ergeben, dass uns insgesamt 558.880 Tonnen Material zur Verfügung steht", berichtet der Erste Bürgermeister. "Davon sind 50 Prozent Betone, 25 Prozent Mauersteine und fünf Prozent Metalle."

"Und plötzlich haben wir ganz kurze Wege"

Die Vision, um die es geht, beschreibt Odszuck so: "Die Stadt selbst ist das Lager. Wenn ich weiß, dass an Stelle X ein Gebäude abgerissen werden soll, und ich Kenntnis über die Material-Zusammensetzung habe und weiß, an anderer Stelle in der Stadt wird etwas gebaut, dann kann ich plötzlich ganz kurze Wege generieren und kann Angebot und Nachfrage zusammenbringen." Es bringe nichts, das Recycling-Material von Heidelberg nach Frankfurt zu schaffen. "Weil dann steckt im Transport schon wieder so viel klimaschädliches CO2, dass es sich fürs Klima nicht rentiert."

Noch kann keiner sagen, wie teuer es wird

Um möglichst kurze Wege geht es auch an einem anderen Punkt: Die großen Mengen Beton in den alten US-Gebäuden sollen zu Recycling-Beton verarbeitet werden - und zwar vor Ort. "Dann hätten wir nicht die vielen Lastwagen, die durch die Stadt fahren", sagt Odszuck. Gerade läuft die Suche nach einem Unternehmen, das eine solche Recycling-Anlage auf dem Gelände errichtet.

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Noch gibt es viele Unwägbarkeiten. Finden sich genügend Abnehmer für die Kloschüsseln, Waschbecken und Ziegelsteine, die nicht für das Neubau-Projekt auf dem Gelände verwendet werden? Welche Preise werden dabei erzielt? Das macht eine genaue Kalkulation des Projektes schwierig.

"Urban Mining" soll bald ganz normal sein

Aber der Erste Bürgermeister von Heidelberg will unbedingt zeigen, dass "Urban Mining" im großen Stil möglich ist. "Die Kernidee ist, dass 'Urban Mining' zur Normalität werden soll. Deshalb ist unser Ziel, das bekannt zu machen. Und den Leuten vor Augen führen, dass es praktikabel ist, dass man keine große Angst davor haben muss." Odszuck gesteht, dass er zu Beginn des Projektes auch "Magengrummeln" hatte. "Aber dann war es uns auch wichtig, den Leuten zu sagen: Hey, fangt einfach an, es ist gar nicht so tragisch."

Auch der Bund hat erkannt, wie wichtig der Wiederverwendung von Baumaterialien ist. In Deutschland wird deshalb ein sogenannter Gebäude-Ressourcen-Pass eingeführt: Zukünftig soll bei allen Neubauten dokumentiert werden, wie viel Beton, Stahl, Holz und andere Stoffe an welcher Stelle verbaut werden.

"Ich glaube, die Widerstände werden abnehmen"

In Heidelberg sieht der der Zeitplan vor, dass Ende des Jahres die ersten Gebäude im ehemaligen US-Stadtteil abgetragen werden - entgegen aller Widerstände. "Widerstände gibt es dergestalt, dass die Leute sagen: Was ist das für eine Spielerei?! Das ist doch viel zu kompliziert!", sagt der Erste Bürgermeister. "Ich glaube, diese Kritiker verstummen nach und nach, weil die Bewegung zu kraftvoll wird. Wir sind ja nicht die Einzigen in Deutschland, die sich da auf den Weg gemacht haben - ganz im Gegenteil. Und weitere kommen nach", so Jürgen Odszuck. "Insofern glaube ich: Der Zug ist nicht mehr anzuhalten. Und die Widerstände werden dann auch abnehmen."

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Dieses Thema im Programm:

NDR Info | Mission Klima – Lösungen für die Krise | 01.11.2024 | 06:00 Uhr

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