UN-Sondergesandter in Afghanistan: "Das Volk braucht unsere Hilfe"
Vor zwei Jahren kehrten die Taliban nach Kabul zurück und übernahmen die Macht. Damit endeten 20 Jahre Bundeswehreinsatz in einem überhasteten Abzug aus Afghanistan. Seitdem hat sich für die Afghanen und Afghaninnen viel verändert.
Heute vor zwei Jahren wollte Markus Potzel nach Kabul fliegen. Zum zweiten Mal sollte er dort als deutscher Botschafter arbeiten. Doch die Taliban übernahmen die Macht in dem Land und Potzel flog nach Doha, um von dort aus Gespräche mit den neuen Machthabern zu führen. Mittlerweile ist er stellvertretender UN-Sondergesandter in Afghanistan. "Das Land hat sich sehr verändert. Es ist von einer Republik zu einem Emirat geworden. Es gibt keine Verfassung mehr, Gesetze werden willkürlich angewandt", sagt er. Ein Emir in Kandahar erlasse Dekrete und Gesetze. "Hier in Kabul spreche ich regelmäßig mit Mitgliedern der Regierung. Niemand hat jemals zu mir gesagt, dass er gegen Bildung für Mädchen ist. Aber sie trauen sich halt nicht, gegen den Emir aufzustehen."
Richtungskampf innerhalb der Taliban
Das bestätigt auch Ellinor Zeino, die ehemalige Büroleiterin der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kabul. Es gebe einen - teilweise offenen - Richtungskampf innerhalb der Taliban, den sie auf ihrer Reise vor Kurzem direkt mitbekommen habe. "Viele der Taliban-Führung sind sehr unglücklich über diese Dekrete. Wollen, dass die wieder zurückgenommen werden." In der Bevölkerung herrsche eine große Perspektivlosigkeit unter den Menschen, weil die Bildungs- und Berufsfreiheit der Frauen stark eingeschränkt sei und zudem Armut herrsche.
"Die Unterdrückung von Frauen und Mädchen ist enorm - nicht tragbar", fasst auch UN-Beauftragter Potzel zusammen. "Das Volk braucht unsere Hilfe, die humanitäre Lage ist sehr prekär." Darauf wies auch Save the Children kürzlich hin. Hunger zwinge Mädchen und Jungen zunehmend zur Arbeit, erklärte die Kinderrechtsorganisation. Die schlimmste Dürre seit 30 Jahren habe zu Ernteausfällen und Viehsterben geführt, und die Kürzung internationaler Gelder schneide Millionen Menschen von Nahrungsmittelhilfe ab.
Es sei klar, dass man die Taliban-Regierung nicht anerkennen könne, aber es sei auch nicht im Interesse der internationalen Gemeinschaft, Afghanistan im Stich zu lassen, meint Potzel. "Ich denke dass es notwendig ist, sich mit den Taliban zu arrangieren - einfach um dem afghanischen Volk zu helfen."
Die Taliban suchen keinen Dialog
Potzels Ansicht nach machen die Taliban einen entscheidenden Fehler: "Sie nehmen den Rest der Bevölkerung nicht mit. Das wird sich früher oder später rächen." Die verschiedenen ethnischen Gruppen sowie junge Menschen und Frauen müssten an der Entwicklung der Gesellschaft beteiligt werden. "Ansonsten wird diese Gesellschaft nicht stabil sein." Auch Dialog und Protest müssten von innen kommen.
Die UN verlange in jedem Gespräch, dass die Regierung einen Dialog mit der gesamten afghanischen Bevölkerung suche und die Dekrete gegen Frauen zurückgenommen werden. "Das ist nicht einfach", so Potzel. Denn die Taliban würden gar keine Gespräche führen wollen. "Die Taliban sind so überzeugt von ihrem Sieg, aus ihrer Sicht, den sie vor zwei Jahren errungen haben, dass sie im Moment gar nicht daran denken, den Dialog zu suchen."
Wertepolitik des Westens hilft nicht
Auch Ellinor Zeino spricht immer wieder mit den Taliban. Dabei sei es wichtig, eine vertrauensvolle Kommunikation aufzubauen. "Also laute Rufe nach einer sehr prinzipienorientierten Wertepolitik aus dem Westen - das hilft den Menschen vor Ort nicht. Das sorgt eher für mehr Widerstand seitens der Regierung." Viele Afghaninnen und Afghanen würden sich wünschen, dass die internationale Gemeinschaft mit der Regierung im Dialog bleibe.
Außenministerin Annalena Baerbock kritisierte mit Blick auf den Jahrestag die negativen Folgen der Taliban-Herrschaft für das Volk und betonte: "Es wird keine normalen Beziehungen geben, solange die Taliban weiter die Hälfte der Gesellschaft vom Arbeitsleben und gesellschaftlicher Teilhabe ausschließen."