Kommentar: Zweite Hälfte von Scholz' Kanzlerschaft wird entscheidend
Die SPD schwächelt, die Ampel streitet und die AfD frohlockt im Umfragehoch. An all dem ist auch der Kanzler schuld: Olaf Scholz muss in der zweiten Hälfte seiner Amtszeit deutlich früher aus der Deckung kommen und kraftvoller Position beziehen, meint Gordon Repinski.
Der NDR Info Wochenkommentar "Die Meinung" von Gordon Repinski, stellvertretender Chefredakteur bei Media Pioneer
Wenn in diesen Tagen die politische Sommerpause in Berlin beginnt, dann dürfte Olaf Scholz sich mit gemischten Gefühlen in den kurzen Urlaub verabschieden. Denn die Kanzler-Partei SPD steht in den Umfragen unter 20 Prozent und weit hinter der Union - und auch die Koalitionspartner schwächeln. Die einzige Stärke, die aktuell im deutschen Parteiensystem zu beobachten ist, strahlt die rechtspopulistische AfD aus. Rechtspopulisten stärker als der Kanzler in Deutschland? Das hat es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gegeben. Es ist das Ergebnis einer Koalition, die sich nach Flitterwochen im Jahr 2021 und einem guten Jahr 2022 im Jahr 2023 fast nur gestritten hat.
Bundeskanzler Scholz wagt sich nicht in Konflikte
Dass dies so weit kommen konnte, ist auch das Versäumnis von Olaf Scholz. Zu lange hat der Kanzler gedacht, er könne als Moderator womöglich sogar profitieren, wenn sich die kleinen Koalitionspartner über die Zukunftsthemen dieses Landes zerstreiten. Lange ist diese Methode in der Karriere von Olaf Scholz gut gegangen. Stets hat er vermieden, sich die Finger schmutzig zu machen, wenn sich um ihn herum der eine oder die andere streitet. Aber auch in der politischen Karriere des Kanzlers war es eben noch nie so ernst wie in dieser Zeit. Der Streit zwischen FDP und Grünen um die richtige Energie-Politik etwa ist nicht irgendeine Frage. Im Kern geht es darum, ob man daran glaubt, dass der Klimawandel sich durch individuelle Einzelinitiative nachhaltig bekämpfen lässt oder ob es dafür Regelungen des Staates braucht. Für beide Argumente gibt es gute Gründe. Aber wo war eigentlich der Kanzler in dieser Monate langen Streitfrage um das Heizungsgesetz? Er war abgetaucht und das bewusst.
Außenpolitische Krise gut gemeistert - Scheitern in der Ebene
Ein weiteres Beispiel: die Finanzpolitik. Hunderte Milliarden gibt Deutschland für mehr Verteidigung und die direkten und indirekten Folgen des Kriegs in der Ukraine auch hierzulande aus. Es wäre eigentlich der Moment, um die Zeitenwende auch im Finanzministerium auszurufen. Erbschaftssteuer, Subventionspolitik, Schuldenbremse, alle Regelungen sind noch aus der Zeit vor dem Beginn des russischen Angriffskriegs. Doch auch hier wagt sich Scholz nicht in einen Konflikt mit Finanzminister Christian Lindner. Er schweigt stattdessen.
Die außenpolitische Krise, die mit dem 24. Februar 2022 entstanden ist, die hat Olaf Scholz mit seiner Regierung erstaunlich gut gemanagt. Deutschland hat den Hebel umgelegt bei Waffenlieferungen für die Ukraine, und in einer atemberaubenden Geschwindigkeit Ersatz für die fossilen Importe aus Russland gefunden. Aber Scholz und die ganze Ampel-Regierung scheinen nun an der Ebene zu scheitern. Nach dem Ausnahmezustand folgt die Normalität in schwierigerem Gelände. Dann muss man miteinander verhandeln, Lösungen finden und Prioritäten setzen. Genau dies ist in der Ampel in den vergangenen Wochen immer wieder der Grund für schwere Auseinandersetzungen gewesen. Immer schwieg Scholz.
Zweite Hälfte der Kanzlerschaft wird entscheidend
Nach dem Sommer beginnt die zweite Hälfte der Kanzlerschaft des Sozialdemokraten. Es wird die wichtigere Hälfte sein, die, in der sich entscheidet, ob der Hamburger das Zeug hat, ein guter Kanzler zu sein. Meistens bringen diese Etappen große Herausforderungen für die Regierungschefs mit sich. Gerhard Schröder wurde ein guter Kanzler, als er seine Idee der "ruhigen Hand" beiseite ließ und sich schmerzhaften Wirtschaftsreformen zuwandte. Angela Merkel wurde eine historische Kanzlerin, als sie in der Migrationspolitik nach ihren humanitären Überzeugungen entschied. Beide Beispiele der vorigen Kanzlerschaft waren zugleich auch polarisierende politische Entscheidungen. Sie schufen Widerstand, weil sie außerhalb der Komfortzone stattfanden. Politik wurde mutig - und historisch.
Die Bevölkerung braucht Identifikation mit ihrem Regierungschef
Diesen Sprung hat Olaf Scholz noch vor sich. Sich selbst weiter zu entwickeln und zu überdenken heißt beim aktuellen Bundeskanzler, auch mal eine Richtung vorzugeben, wenn manche noch überzeugt werden müssen. Es heißt für Scholz, auch mal etwas lauter zu sein und einen schwelenden Streit gerade in seiner Koalition vielleicht frühzeitig zu unterbinden. Es heißt für Scholz, nicht mehr nur hinter der Bühne zu agieren, sondern auch mal auf der Bühne. Scholz denkt als Politiker weit voraus, das ist eine wirkliche Qualität. Aber er unterschätzt bis heute, dass seine Politik vermittelt werden muss und dass er auch als Mensch spürbar werden muss. Die Bevölkerung braucht Identifikation mit ihrem Regierungschef, sonst wendet sie sich gelangweilt ab.
Und wenn es schwierige Zeiten sind, dann wendet sie sich vom politischen System womöglich ganz ab. Ob Scholz es gelingt, in dieser großen Frage gegenzusteuern, das wird die Aufgabe der zweiten Hälfte dieser Legislaturperiode. Dabei wird eine große, historische Frage für Deutschland mit entschieden: Werden Rechtspopulisten erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg eine stabile politische Kraft in unserem Land? Für Scholz kann die Antwort darauf nur bedeuten: Es ist wert, vieles zu hinterfragen, was man bisher gemacht hat. Auch ganz persönlich und für sich als Bundeskanzler.