Fast jedes sechste Kind wächst mit suchtkranken Eltern auf
Das Bundesgesundheitsministerium geht davon aus, dass fast jedes sechste Kind mit mindestens einem suchtkranken Elternteil aufwächst. Im Fall von Julia aus Hamburg dominierten Schuld, Scham und Traurigkeit wegen ihrer alkoholkranken Mutter ihre Teenager-Zeit.
Wenn Julia (Name von der Redaktion geändert) sich an ihre Mutter erinnert, dann gibt es zwei ganz verschiedene Frauen. Eine, bis sie 12 Jahre alt ist. Und eine danach. Die erste Mutter hat nur gelegentlich mal ein Glas Wein getrunken. Die andere jeden Tag große Mengen.
Die 24-jährige Studentin zeigt ein Foto aus ihrer Kindheit: "Hier sieht man meine Mutter und mich, schätzungsweise 2005 oder 2006 an Weihnachten." Ein etwa siebenjähriges blondes Mädchen schaut zu ihrer Mutter hoch. Beide strahlen sich an. Sie sehen ausgelassen aus. "Das sieht total nach der Mutter-Kind-Beziehung aus, die ich mir auch die Jahre darauf gewünscht hätte, das sieht wahnsinnig vertraut aus", sagt Julia. "Sie hat mich im Arm. Und ich glaube ehrlicherweise, so habe ich sie in den letzten Jahren lange nicht mehr angeschaut."
Alkohol hinterlässt auch physische Spuren
Ein anderes Bild, Weihnachten ein paar Jahre später. "Man sieht meiner Mutter im Gesicht total an, was der Alkohol auch schon physisch angerichtet hat, dass sie ganz aufgequollen wirkt und ganz große rote Wangen hat."
Die Sucht beginnt bei Julias Mutter nach einer Hirn-OP. Zunächst trinkt sie gegen die Schmerzen, dann aus Gewohnheit, später außer Kontrolle. "Der Rhythmus meiner Mutter bestand letztlich aus trinken und danach schlafen", erinnert sich Julia. "Manchmal war das einmal am Tag, dass sie ganz viel getrunken hat und dann geschlafen hat. Manchmal hat sich das aber auch wiederholt, dass ich sie mehrfach am Tag quasi wieder hinlegen musste."
Fast jedes sechste Kind betroffen
Millionen Kindern in Deutschland geht es so wie Julia. Ihnen ist keine unbeschwerte Kindheit vergönnt. Das Bundesgesundheitsministerium geht davon aus, dass etwa 2,65 Millionen Kinder von der Sucht der Eltern - Alkohol, Medikamente, Heroin, Glücksspiel - betroffen sind: Das ist fast jedes sechste Kind.
Ihnen ist eine Aktionswoche gewidmet. Sie soll aufmerksam machen auf die Kinder aus suchtbelasteten Familien, die meist mit Angst, Scham und Unsicherheit aufwachsen. Und die häufig durchs System rutschen.
Das Leben geprägt von der Sucht der Mutter
Julias Leben war geprägt von der Sucht ihrer Mutter. Andere Kinder in ihrem Alter hätten gefragt, was es zum Mittagessen gebe und was sie heute noch mache. "Meine Fragen, wenn ich von der Schule kam, waren eher: Liegt meine Mutter irgendwo? Hat sie überhaupt gekocht? Gibt es was zu essen? Ist sie gleich sauer auf mich? Werde ich angeschrien? Muss ich irgendwas putzen? Muss ich den Krankenwagen rufen?"
Julia war mit ihrer Mutter nach der Schule immer alleine zu Hause. Ihr Vater, erzählt sie, habe sich in seine Arbeit geflüchtet. Freunde hatte sie keine. Stattdessen kümmerte sie sich um ihre Mutter und den Haushalt. "Mein Ziel war es, sie ins Bett zu bringen, weil ich wusste, da kann sie sich ausschlafen. Und ich habe mehrere Stunden, in denen ich keinen Ärger bekomme, und in denen ich also ein bisschen ankommen kann zu Hause."
Beratungsstelle für Kinder und Jugendliche
Solche Situationen kennt Katharina Balmes von der Beratungsstelle KALLE im Hamburger Stadtteil St. Georg. Die Sozialpädagogin sitzt am Tisch, vor ihr Playmobilfiguren: Hier können Kinder Situationen von zu Hause nachstellen, so fällt es ihnen einfacher zu reden. "Ein Kind hat erzählt, dass der Papa in einer Badewanne liegt und seine Flasche dabei hat", sagt Balmes. "Und auch, dass das Kind sich manchmal Sorgen macht, dass Papa dann auch untergluckern könnte. Und dass es dann dabei bleibt und aufpasst auf Papa."
Die Beratungsstelle ist ein Ort, sich Erwachsenen anzuvertrauen. Kinder und Jugendliche bekommen hier Unterstützung. Die Eltern würden den Kindern immer sagen, es gebe gar kein Problem, doch sie würden wahrnehmen, dass es sehr wohl ein Problem gebe. "Es ist so wichtig, im Gespräch eine Bestätigung zu bekommen: Ja, das, was du wahrnimmst, ist richtig. Deine Situation ist nicht okay, aber du bist okay, so wie du bist", sagt Balmes. "Das ist so wichtig, weil wenn man das alles immer runterschluckt, dann kann das krank machen, psychisch krank und auch körperlich krank."
Julia bekommt viel Wut von der Mutter ab
Julia hat zu Hause viel Wut von ihrer Mutter abgekommen, alles auf sich bezogen. Schuld, Scham und Traurigkeit dominieren ihre Teenagerzeit. Die damals 13-Jährige vertraut sich niemandem an. Außer ihrem Tagebuch:
"Liebes Tagebuch, das mit dem Alkohol bei Mama ist wieder schlimmer. Papa macht Urlaub. Er kommt am Donnerstag oder Freitag zurück. Was soll ich sagen? Umso länger Papa weg ist, umso voller die Gläser. Gerade hängt sie unten über der Kloschüssel und kotzt sich den Sekt und den Wein von heute aus. Jetzt, gerade als sie aus dem Klo kam, trank sie Schnaps. Ich liebe meine Mama. Aber in solchen Momenten würde ich am liebsten meine Sachen packen und gehen." Tagebuch-Auszug vom Juni 2013
Ein paar Jahre später schreibt sie ihrer Mutter einen Brief, der ihr den Anstoß gibt, einen Entzug zu machen. Ohne Erfolg. Als Julia 17 Jahre alt ist, stirbt ihre Mutter an den Folgen der Alkoholsucht. "Als meine Mutter gestorben ist, war das im ersten Moment ein riesiger Schock. Gleichzeitig tut es mir ganz weh, das in Worte zu fassen, aber es war auch eine kleine Erleichterung oder eine kleine Befreiung, weil ich wusste, diese Riesenverantwortung, die ich für meine Mutter trage, fällt auf einen Schlag von mir ab."
Kontakt zum Vater abgebrochen, Therapie begonnen
Die Tagebücher und ein paar Fotos. Sonst hat Julia kaum noch etwas, das sie an ihre Kindheit erinnert. Den Kontakt zum Vater hat die 24-Jährige mittlerweile abgebrochen. Direkt nach dem Abi ist sie aus Süddeutschland nach Hamburg gezogen, hat eine Ausbildung gemacht, später ein Studium begonnen. Und eine Therapie angefangen. Das, was sie erlebt hat, holt Julia immer wieder ein, etwa wenn sie U-Bahn fährt und bemerkt, dass jemand betrunken ist. "Ich habe da regelrechte Sensoren. Ich rieche, ich sehe und ich erkenne das wahnsinnig schnell. Und das löst eine wahnsinnige Panik in mir aus, und ich muss entweder sofort die U-Bahn verlassen oder ich bin regelrecht gelähmt."
Seit ein paar Jahren lebt sie mit ihrem Freund zusammen. Sie hat Strategien gefunden, mit ihrem Trauma umzugehen. Sie trinkt selber nichts, will die Kontrolle über ihren Körper behalten. Alkoholabhängigkeit sei nach wie vor ein Tabuthema in der Gesellschaft. "Trotzdem würde ich mir wünschen, dass da genauer hingeschaut wird und lieber einmal zu viel irgendwas angesprochen wird als einmal zu wenig." Jede Hand, die sich ihr damals entgegengestreckt hätte, wäre im Rückblick willkommen gewesen. "Ich glaube, früher oder später hätte ich nach der gegriffen, gerade als ich so doll zu Hause gelitten habe."