"Und dann sieht man: Alles liegt in Schutt und Asche!"
Nach den verheerenden Erdbeben in der Türkei und in Syrien Anfang Februar beschließt der Hamburger Feuerwehrmann Yalçin Kasret, den betroffenen Menschen zu helfen. Also macht sich der 31-Jährige kurzerhand auf den Weg in die Katastrophen-Region.
"Kann ich mit meinem Beruf mehr für die Erdbeben-Opfer tun, als Geld zu schicken?", fragt sich Yalçin Kasret nach den Erdbeben in der Türkei und Syrien. Er arbeitet bei der Hamburger Berufsfeuerwehr und ist gelernter Notfallsanitäter. Die Fernsehbilder von weinenden Kindern oder von Frauen und Männern, die den Tod von Familienangehörigen betrauern, bewegen den türkischstämmigen Deutschen. "Mir ist dann ziemlich schnell der Gedanke gekommen: Warum kaufst du dir nicht ein Ticket, fliegst runter und bietest deine Hilfe vor Ort an?" Er nimmt Kontakt mit dem türkischen Konsulat auf, das ihn an die türkische Katastrophenschutz-Behörde AFAD vermittelt. Und so macht sich der 31-Jährige auf den Weg in die Türkei - vier Tage nach dem schweren Erdbeben.
Wenn 16 Stockwerke in Trümmern vor einem liegen
Seine erste Station in der Türkei ist der Flughafen von Adana. "Ich hatte überhaupt keinen Plan, wie es weitergehen sollte", erzählt Kasret im Gespräch mit NDR Info. "Vielleicht mit einem Auto?" Seine türkischen Sprachkenntnisse helfen ihm, schnell Kontakte zu knüpfen. Schließlich gelangt er an Bord eines Militär-Hubschraubers in das Katastrophen-Gebiet. Im Dunkeln landet er auf einem Acker in der Provinz Hatay. Erst am nächsten Morgen sieht er das Ausmaß der Zerstörung: "Als ich in meinem Zelt aufgestanden bin und bei Tageslicht einen Schritt nach draußen gemacht habe, war ich zunächst baff", erzählt der Hamburger. "Da habe ich erst gesehen, was das bedeutet, wenn vier- bis fünfstöckige Häuser - oder teilweise auch 12- bis 16-stöckige Gebäude - eingestürzt sind und in Trümmern vor einem liegen."
Die Bilder im Fernsehen oder bei Social Media könnten nicht annähernd das wahre Ausmaß der Zerstörung zeigen. "Dieses Gefühl, sich in der Stadt Antakya einmal um 360 Grad zu drehen und alles sieht gleich aus. Alles liegt in Schutt und Asche! Das kann man auf keinen Fall nur anhand von Bildern und Videos nachvollziehen."
Verschüttete gerettet, Verstorbene geborgen
Zwölf Tage verbringt Kasret im Katastrophen-Gebiet. "Zunächst wusste ich gar nicht, was ich machen soll, weil vor Ort auch extrem viel Chaos war." Der norddeutsche Feuerwehrmann benötigt einige Zeit, um herauszufinden, wo er helfen kann. Aber es gelingt ihm schließlich. "Anfangs waren noch die Such- und Bergungs-Aktionen im vollen Gange, weil immer wieder Meldungen von Überlebenden gekommen sind", erzählt Kasret. "Diesen Teams wurde ich dann zugeteilt. Denn es gab relativ wenige ausgebildete Personen, die Erste Hilfe für Verschüttete oder Schwerverletzte leisten konnten." Bei seinen Einsätzen wurden zwei Menschen lebendig aus den Trümmern gerettet. Aber oft sei es darum gegangen, Todesopfer zu bergen.
Der verletzte Junge sagt: "Rettet lieber meinen Bruder!"
Einen der prägendsten Momente erlebt der Hamburger, als er einem etwa elfjährigen Jungen mit einer großen Platzwunde am Kopf begegnet. Kasret bietet ihm an, seinen Verband zu wechseln, damit sich die Wunde nicht entzündet. "Da hat mich der Kleine angeguckt und auf Türkisch zu mir gesagt: 'Vergiss meinen Kopf, rettet lieber mein Bruder!' Was sagst du in einem solchen Moment dem Kleinen? Leider lag sein Vater schon tot im Wohnzimmer. Seine Mutter war zwar schwer verletzt gerettet worden, aber nach Ankara geflogen worden." Den Bruder hätten die Bergungsteams nicht finden können, berichtet Kasret.
Nachbeben: "Plötzlich wackelt der ganze Boden"
Als Kind hatte Yalçin Kasret während eines Urlaubs in der Türkei ein Erdbeben erlebt: "Das war im Jahr 1999. Ich kann mich nur noch erinnern, wie wir aus dem Gebäude gelaufen sind, weil es gewackelt hat." Rund 24 Jahre später macht er diese Erfahrung bei den Nachbeben in der Katastrophen-Region erneut, nur viel bewusster: "Ich weiß gar nicht, wie ich das beschreiben soll. Man merkt, hier passiert gerade etwas, eine unglaubliche Energie. Plötzlich wackelt der ganze Boden und man guckt sich die Gebäude an, die wackeln. Die Alarmanlagen der Autos springen an, irgendwelche Zäune knirschen, Fenster gehen kaputt und man hat nicht die Möglichkeit, aus dieser Situation rauszugehen - weil das nicht nur auf fünf Metern passiert, sondern auf Hunderten von Kilometern. Das ist beängstigend!"
Pläne für eine weitere Reise
Inzwischen ist Yalçin Kasret zurück in Hamburg - und macht wieder seine Schichten bei der Feuerwehr. Aber die Situation in den Erdbeben-Gebieten lässt ihn nicht los. Er hat sich vorgenommen, für einen weiteren Hilfseinsatz in die Türkei zu reisen. "Ich bin gerade mit einer deutschen Hilfsorganisation im Gespräch, die ich vor Ort kennen gelernt habe. Nach Möglichkeit wollen wir in ein paar Wochen nochmal in die Türkei fliegen", sagt Kasret. Die Idee sei, weitere Hilfsgüter direkt dorthin zu bringen, wo sie am dringendsten benötigt werden. "Die Hilfe für die Not leidenden Menschen soll nicht nur zwölf Tage dauern. Wir wollen längerfristig unsere Hilfe anbieten."