Stand: 22.07.2019 10:39 Uhr

Trinken im Pflegeheim: Ein Zuhause für Süchtige

von Marie Löwenstein, NDR Info
Werner Osthöfer sitzt in seiner blauen Latzhose an der Werkbank und baut ein Vogelhäuschen. © NDR Foto: Marie Löwenstein
"Holz ist mein Leben", sagt Werner Osthöfer, der froh ist, nach Jahren auf der Straße im Haus Öjendorf einen Platz zum Leben gefunden zu haben.

Über Drogen- und Alkoholsucht bei jungen Menschen wird oft berichtet. Weniger im Fokus ist aber, dass es auch viele alte und pflegebedürftige Menschen gibt, die mit einer Suchterkrankung zu kämpfen haben. Laut einer Studie des Robert Koch-Instituts konsumieren zum Beispiel 34 Prozent der Männer und 18 Prozent der Frauen im Rentenalter Alkohol in mindestens riskanter Menge. Problematisch wird das besonders dann, wenn die Betroffenen ins Pflegeheim müssen.

Alkoholiker dürfen hier weiter trinken

Eine Einrichtung in Hamburg kümmert sich speziell um pflegebedürftige Alkoholiker. Das Besondere: Die Bewohner dürfen hier weiter trinken. Einer von ihnen ist Werner Osthöfer. Er steht in seiner blauen Latzhose an der Werkbank und baut ein Vogelhäuschen: "Da kommt hier noch der First drauf, hier noch ein Längsbalken und dann noch die Verbretterung", berichtet der gelernte Holzmechaniker. Der 71-Jährige mit dem weißen Vollbart fühlt sich in der Werkstatt des Pflegeheims Haus Öjendorf besonders wohl: "Holz ist mein Leben. Immer nur auf dem Zimmer zu sitzen, das ist nicht schön. Ich bin froh, dass ich so ein bisschen was zu tun habe."

"Für diese Menschen ist unser Haus da"

Bevor Osthöfer in das Pflegeheim kam, war er 18 Jahre lang obdachlos. Das ruinierte seine Gesundheit: die Hüfte kaputt, das Knie auch, ein Lungentumor dazu. Er hatte Glück, dass er einen Platz im Haus Öjendorf bekam - trotz seiner schweren Alkoholsucht. Denn es kümmert sich als eine von wenigen Pflegeeinrichtungen in Deutschland speziell um aktive Trinker.

Es sind pflegebedürftige Menschen, die nicht trocken werden wollen oder können, sagt Andreas Meyer. Der Leiter des Pflegeheims arbeitet seit mehr als 30 Jahren im Haus Öjendorf: "Menschen, die es nicht hinbekommen, die pflegebedürftig werden: Wo bleiben diese Leute? Das ist ja die Frage. Zu einer eigenen Wohnung sind sie nicht in der Lage. Und für die Straße sind sie zu schwach. Für sie ist unser Haus da."

Niemand wird zu einer Therapie gedrängt

Pflegedienstleiter Andreas Meyer steht vor dem Pflegeheim. © NDR Foto: Marie Löwenstein
Das Haus Öjendorf ist ein Pflegeheim und keine Erziehungsanstalt, betont der Leiter der Einrichtung, Andreas Meyer.

133 Alkoholiker leben unter Meyers Leitung in dem U-förmigen Gebäude am östlichen Rand von Hamburg. Ihre Krankheit müssen sie hier nicht verstecken; Trinken ist ausdrücklich erlaubt: "Wir nehmen die Menschen so auf, wie sie sind. Wir begleiten sie in der Sucht, akzeptieren sie erst mal so, ohne zu werten. Das gibt auch ganz viel Sicherheit und Geborgenheit für die Leute, die hierher kommen."

Auch ohne Zwang trinken viele deutlich weniger

Wer den Wunsch hat, eine Therapie zu machen, bekommt Hilfe - aber niemand wird dazu gedrängt. Das würde auch nichts bringen, sagt Meyer. Der ehemalige Obdachlose Werner Osthöfer etwa lebt seit 13 Jahren im Heim - und trinkt noch immer. Immerhin aber deutlich weniger als zu seinen Straßenzeiten.

Das strukturierte Leben im Heim hilft dabei, den Konsum herunter zu schrauben, ebenso wie ein enger finanzieller Rahmen. Die Sozialhilfe bezahlt die Einrichtung, bar ausgezahlt bekommen die Alkoholkranken aber nur rund 100 Euro monatlich. Das reicht für Zigaretten und etwa einen Tetrapack Wein am Tag - wenn die Bewohner es sich einteilen können.

Wie die Sucht gelebt wird, entscheiden die Bewohner

"Wenn das nicht hinkommt, dann bieten wir ihm Unterstützung an, etwa indem wir das Geld einteilen. Es wird dadurch nicht mehr, aber man kommt wenigstens über den Monat", sagt Meyer. Ob das ganze Geld auf einmal ausgezahlt wird oder jeden Tag nur ein paar Euro, das sprechen die Kranken jeweils zum Monatsanfang mit den Pflegern ab. Daran wird dann für vier Wochen nicht mehr gerüttelt.

Wichtig ist aber, sagt Meyer, dass die Entscheidung, wie die Sucht gelebt wird, letztendlich bei den Bewohnern selbst liegt: "Viele hier sind durch ihren starken Alkoholkonsum früh zum Pflegefall geworden."

Pfleger müssen besonders geschult sein

Bei manchen war es aber auch eine Verkettung von Schicksalsschlägen, so wie bei dem ehemaligen Hafentaucher Peter Fischer: erst finanzielle Schwierigkeiten, dann die Sucht, dann ein Schlaganfall. Der damals 57-Jährige zog zuerst in ein anderes Pflegeheim, erzählt er: "Aber da war auch Alkohol verboten, und dann habe ich trotzdem Alkohol getrunken. Ich passte da nicht in die Gruppe rein. Dann haben wir uns das hier angeguckt. Acht, neun Jahre bin ich hier. Ich bin zufrieden."

In anderen Heimen seien die Pfleger meist nicht ausreichend für den Umgang mit Süchtigen geschult, sagt Pflegedienstleiter Meyer. Auch die anderen Bewohner seien überfordert: "Ein süchtiger Mensch oder ein Betrunkener ist ja nicht immer so einfach zu händeln. Wenn ich mir vorstelle, eine ältere Dame, 81-jährig und da ist jemand polterig laut im Zimmer nebenan oder sogar auf dem Flur oder im Speisesaal, das macht ja auch Angst."

"Ich habe das ganz gut getroffen hier"

Natürlich gibt es auch im Haus Öjendorf Regeln. Wer gewalttätig wird oder illegale Drogen konsumiert, kann seinen Platz verlieren. Davon abgesehen leben die Bewohner aber sehr frei.  Denn das Haus Öjendorf ist ein Pflegeheim und keine Erziehungsanstalt, betont Meyer. Das gefällt auch Werner Osthöfer: "Man hat hier seine Ruhe, wird nicht kommandiert oder schikaniert. Das Personal ist gut, da kommt man gut zurecht. Ich habe das glaube ich ganz gut getroffen hier."

Das Heim will pflegebedürftigen Alkoholikern wie ihm eine möglichst große Lebensqualität bieten - und das, ohne sie zu bevormunden.

Dieses Thema im Programm:

NDR Info | Infoprogramm | 22.07.2019 | 08:20 Uhr

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