Nach Amoklauf in Hamburg: Zeugen Jehovas weiter unter Schock
Nach der Amoktat in den Räumen der Zeugen Jehovas in Hamburg dauern die Ermittlungen der Polizei weiter an. Ein Amokläufer hatte am Donnerstagabend in dem Gebäude der Glaubensgemeinschaft im Stadtteil Alsterdorf sieben Menschen und sich selbst erschossen. Acht Menschen wurden verletzt.
Der Sprecher der Zeugen Jehovas, Michael Tsifidaris, sagte dem NDR Hamburg Journal: "Stand Sonntagnachmittag sagen uns die behandelnden Ärzte, dass die Schwerverletzten in stabilem Zustand seien". Sie befänden sich auf der Intensivstation: "Und wir alle wissen, dass sie noch nicht über den Berg sind. Wir beten sehr und hoffen sehr, dass diese Schwerverletzten das überleben. Aber wir können das heute noch nicht endgültig bestätigen." Nach dem letzten Stand waren vier von ihnen lebensgefährlich verletzt. Das Tatmotiv ist weiter unklar.
Zeugen Jehovas führen Gottesdienste digital durch
Die 47 Gemeinden der Zeugen Jehovas in Hamburg veranstalten auf Anraten der Sicherheitsbehörden ihre Gottesdienste digital. Sie seien gerade von zentraler Bedeutung, sagte Tsifidaris: "Das ist in diesen Stunden so wichtig, dass man gemeinsam weinen kann, gemeinsam beten kann, sich physisch umarmen kann." Die Resonanz aus dem In- und Ausland sei "überwältigend". "Wir bekommen viele Nachrichten, Hilfsangebote, Briefe. Das tut gut, das zu sehen."
Runder Tisch zur psychologischen Betreuung
Für die betroffene Gemeinde in Alsterdorf sei es eine dramatische Situation, es gehe ein Riss durch diese Gemeinde. "Wahrscheinlich hat jeder in seiner Familie mindestens einen Verletzten oder Schwerverletzten oder gar einen Toten zu beklagen. Ich habe selber liebe Freunde verloren. Das ist unwirklich und surreal." Am Montag soll es einen runden Tisch mit Vertretern und Vertreterinnen geben, um die psychologische Betreuung der Betroffenen schnell und gut zu organisieren.
Fehrs: "Tief erschüttert stehen wir vor den Ereignissen"
Hamburgs evangelische Bischöfin Kirsten Fehrs hielt am Sonntagvormittag während eines Gottesdienstes im Lübecker Dom Fürbitte für die Opfer des Amoklaufs. "Tief erschüttert stehen wir vor den Ereignissen am vergangenen Donnerstag in Hamburg. Trauer und Schmerz, Klage und Entsetzen - all das bewegt uns zutiefst", sagte die Bischöfin laut Mitteilung der Nordkirche in ihrer vorab veröffentlichten Fürbitte. "Voller Mitgefühl denken wir an all jene, die in der Tatnacht ihre Lieben verloren haben", so Fehrs.
Stiftungen warnen vor Spekulationen zum Amoklauf
Unterdessen haben zwei Stiftungen ihre Solidarität mit den angegriffenen Zeugen Jehovas bekundet und zugleich davor gewarnt, über einen Zusammenhang zwischen der Glaubensgemeinschaft und den Motiven des Täters zu spekulieren. Die Opfer eines Verbrechens könnten und dürften nicht zur Erklärung der Taten eines Verbrechers missbraucht werden, teilten die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und die Arnold-Liebster-Stiftung am Sonnabend gemeinsam mit. "Es ist geboten, die Ermittlungen abzuwarten und die Würde der Opfer dieses Verbrechens zu wahren", so die Stiftungen.
Debatte über schärfere Waffengesetze
Die Amoktat rückt die politische Diskussion über schärfere Waffengesetze wieder in den Fokus. Einen Tag nach dem Verbrechen kündigte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) an, den Entwurf zur Änderung des Waffengesetzes noch einmal prüfen zu wollen. Man müsse überlegen, "wie wir mit dieser neuerlich furchtbaren Amoktat in Hamburg nochmal an den Gesetzentwurf gehen, um zu schauen: Gibt es noch Lücken, oder wo war er genau richtig?", sagte Faeser am Freitagabend den ARD Tagesthemen.
Amoklauf am Donnerstagabend in Alsterdorf
Bei der Amoktat am Donnerstagabend in der Straße Deelböge im Stadtteil Alsterdorf hatte der 35-jährige Philipp F. sieben Menschen und sich selbst getötet. Zu den Toten zählt die Polizei auch ein ungeborenes Kind. Acht Menschen wurden verletzt, vier von ihnen schwebten in Lebensgefahr. Der Täter hatte mehr als 100 Mal mit einer halbautomatischen Pistole geschossen. Seit dem 12. Dezember sei er im legalen Besitz dieser Waffe gewesen, hatte Hamburgs Polizeipräsident Ralf Martin Meyer bei einer Pressekonferenz am Freitag gesagt. Als Extremist war der Schütze nach Angaben aus Sicherheitskreisen nicht bekannt. Philipp F. war ein ehemaliges Mitglied der Hamburger Gemeinde der Zeugen Jehovas, die er vor eineinhalb Jahren freiwillig, aber offenbar nicht im Guten verlassen hatte, wie Polizei, Staatsanwaltschaft und Innenbehörde am Freitag sagten.
Kontrolle durch Waffenbehörde im Februar
Philipp F. war Sportschütze, hatte eine Waffenbesitzkarte und war erst kürzlich von der Waffenbehörde aufgesucht worden. Die Behörde hatte im Januar einen anonymen Hinweis auf eine mögliche psychische Erkrankung von Philipp F. erhalten. Dieser wurde Anfang Februar von zwei Beamten der Waffenbehörde unangekündigt aufgesucht. Damals habe es keine relevanten Beanstandungen gegeben, die rechtlichen Möglichkeiten seien ausgeschöpft gewesen, sagte Meyer. Die gesamten Umstände hätten auch keinerlei Anhaltspunkte für die Beamten ergeben, "die auf eine psychische Erkrankung hätten hindeuten können".
Zuletzt war Philipp F. als eine Art Unternehmensberater tätig. Auf seiner Homepage verlangte er für seine Dienste ein Tageshonorar von 250.000 Euro. Außerdem vertrieb er ein Buch, das er selbst verfasst hatte und auf seiner Homepage als wichtigstes Werk neben der Bibel und dem Koran bezeichnete.
Linke: Senat muss über offene Fragen aufklären
Deniz Celik, innenpolitischer Sprecher der Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft, forderte in einer am Sonntag verbreiteten Mitteilung, dass der Hamburger Senat den Innenausschuss über offene Fragen in Bezug auf den Amoklauf vollständig aufklären müsse. "Nach den neuesten Erkenntnissen muss die Frage, ob der Amoklauf hätte verhindert werden können, neu gestellt werden. Die auf der Homepage und im Buch vertretenen kruden Thesen zeichnen das Bild eines wirren, religiösen Extremisten", sagte Celik. Da zum Zeitpunkt des anonymen Hinweises Informationen über den Täter öffentlich zugänglich waren, hätte eine Prüfung durch die Waffenbehörde zu dem Ergebnis führen müssen, dass erhebliche Bedenken gegen die persönliche Eignung von Philipp F. zum Besitz einer Waffe vorliegen, so Celik.
Ministerium: Kein Eintrag zu Drogendelikten
Über eine frühere Drogenauffälligkeit des Täters war ersten Erkenntnissen zufolge nichts bekannt. Es gebe keinen entsprechenden Eintrag bezüglich Drogendelikten, sagte ein Sprecher des bayerischen Innenministeriums am Sonnabend. Zuvor hatte es Berichte über möglichen Drogenmissbrauch von Philipp F. in der Vergangenheit gegeben. Er stammt aus Memmingen in Bayern und war seit 2015 in Hamburg gemeldet.