Fernwärme: Wenn die Nachzahlung zu schlaflosen Nächten führt
Vielen Fernwärme-Kunden flattern in letzter Zeit hohe Betriebskosten-Nachzahlungen für das Jahr 2022 in den Briefkasten. Auch Heinz Dieter Radtke aus Hamburg bereitete ein solcher Brief schlaflose Nächte.
Seit 44 Jahren lebt Heinz Dieter Radtke in seiner kleinen Wohnung in Hamburg-Wilhelmsburg. Knapp 1.600 Euro Rente im Monat hat der 77-Jährige zum Leben. Seine Miete in der Hochhaussiedlung konnte der ehemalige KfZ-Mechaniker immer ohne Probleme zahlen. Doch dann erhielt er vor einiger Zeit Post von seinem Vermieter: Er sollte für 2022 Betriebskosten für Fernwärme nachzahlen - 2.474,92 Euro. "Das war wie ein Schlag ins Kontor, wie wenn ein Boxer dich umhaut", erzählt Radtke. Er habe sich eingeschlossen und den Tag im Bett verbracht.
Den Anbieter zu wechseln, ist für Radtke leider nicht möglich. Er ist Mieter bei einer Wohnungsbaugenossenschaft, die Fernwärme bezieht. Fernwärme-Anbieter betreiben ihr Netz als Monopolist. Ist eine Wohnung daran angeschlossen, gibt es keine Alternative. Die Verträge laufen zudem oft lange, meist zehn Jahre.
Hilfe bei Mieterverein und Verbraucherschützern
Radtke wandte sich in seiner Not an den Mieterverein zu Hamburg. Dort riet man ihm, Widerspruch einzulegen und die Betriebskostenabrechnung prüfen zu lassen. "Ganz viele Mieterinnen und Mieter kommen mit Abrechnungen zu uns, in denen die Fernwärmekosten ungefähr doppelt so teuer geworden sind wie im Jahr 2021", sagt der Vorsitzende des Mietervereins, Rolf Boss.
Fernwärme-Preis an Börsenpreis für Gas gekoppelt
Der Grund: Zahlreiche Verträge orientieren sich beim Arbeitspreis, also dem Preis für eine Kilowattstunde, am Börsenpreis für Gas. Der war aufgrund der Ukraine-Krise in 2022 stark schwankend und teilweise extrem hoch. Diese Koppelung hält der Mieterverein für unzulässig. Die Heizungskosten der Verbraucher sollten sich seiner Meinung nach an den realen Einkaufskosten der Fernwärme-Anbieter orientieren - und nicht an einem Börsenpreis.
"Wir stoßen jetzt erst an den Punkt, an dem das eigentlich ungerecht ist und zu sehr hohen Gewinnen bei den Fernwärme-Anbietern führt. Und diese Börsenpreis-Koppelung ist wiederum gesetzlich so nicht zulässig. Das sagen zumindest wir", erklärt Boss. Der Verbraucherzentrale Bundesverband hat daher unter anderem beim Oberlandesgericht in Schleswig Sammelklagen gegen E.ON und Hansewerk Natur eingereicht.
Kritik: Zusammensetzung des Fernwärme-Preises intransparent
Die Nachfragen zu Energie-Themen sind auch bei der Verbraucherzentrale in Niedersachsen hoch. "Die Anfragen zu Fernwärme werden immer mehr", sagt der Referent für Energierecht, René Zietlow-Zahl. Deswegen konzipiere er aktuell auch ein neues Beratungsangebot zu dem Thema, das im Laufe des Jahres starten soll. "Wir müssen uns aber erstmal selbst einen Überblick verschaffen."
Denn selbst für viele Branchenexpertinnen und -experten ist die Zusammensetzung des Fernwärmepreises der einzelnen Anbieter nicht nachvollziehbar - auch weil er oft nicht transparent aufgeschlüsselt wird. Im vergangenen Jahr hat der Bundesverband der Verbraucherzentralen die Preise von 33 Fernwärmebetreibern miteinander verglichen. Sie seien überrascht gewesen, dass einige Preise doppelt so hoch lagen wie andere, berichtet der Leiter des Teams Energie und Bauen, Thomas Engelke. "Da ist natürlich die Frage, warum sind die Preisunterschiede so groß?" Auch ein Vergleich der Kollegen in Schleswig-Holstein zeigt große Unterschiede - sogar innerhalb eines Ortes.
Engelke fordert, dass gesetzlich nachgebessert wird - unter anderem mit einer bundesweiten Preisaufsichtsbehörde. Zudem wünscht er sich mehr Transparenz für die Verbraucher, damit diese sehen können, wo ihr Anbieter preislich liegt.
Gaspreis war bereits 2023 niedrig
Im vergangenen Jahr wurde die Gaspreisbremse eingeführt und auch der Börsenpreis sank wieder stark. Seit einem Jahr liegt er nun auf ähnlich niedrigem Niveau. "Deswegen erwarten wir jetzt, dass die Anbieter ihre Preise senken, da sie seit einem Jahr günstig einkaufen und dies weitergeben sollten", sagt Engelke.
Heinz Dieter Radtke hat mit seiner hohen Nachforderung allerdings auch gleich einen neuen monatlichen Abschlag angekündigt bekommen. Anstatt 280 Euro Betriebskosten-Vorauszahlung, sollten es fortan 601 Euro sein.
Staatliche Grundsicherung beantragen
Radtke hatte jedoch Glück im Unglück: Der Mieterverein zu Hamburg riet ihm dazu, einen Antrag auf Grundsicherung beim Bezirksamt zu stellen. Denn die Prüfung, ob eine Rechnung korrekt oder unzulässig war, kann Jahre dauern. In der Zwischenzeit würden Mahnungen gestellt, erklärt der Vorsitzende des Mietervereins Boss. "Wir sind natürlich absolut dagegen, dass Fernwärme-Anbieter reich werden auf Kosten der Allgemeinheit. Aber es ist so, dass wir den Druck vom Einzelnen nehmen müssen. Und im Nachgang prüfen wir dann: Ist das tatsächlich zulässig gewesen?"
Nachdem Radtke seitenlange Formulare für die Übernahme der Kosten ausgefüllt hatte, wurde der Antrag zunächst abgelehnt. "Dann war ich auch schon wieder fertig", sagt Radtke. Er verkroch sich erneut. Doch im zweiten Anlauf zahlte das Amt einen Großteil seiner Rechnung. Eine Erleichterung. Trotz aktuell niedrigerem Gaspreis: Vor der nächsten Nebenkosten-Rechnung graut es ihm schon.