Nachgedacht: Putins Werk - Niedertracht, Moral und Realismus
Wie kann man über die vielen schlimmen Dinge sprechen, die zurzeit geschehen? Moralbegriffe allein reichen nicht aus, findet Ulrich Kühn.
Die deutsche Sprache ist eine Schatzkiste. Wer Eindruck schinden oder Einfluss entfalten will, muss an diese Kiste ran. Ganz oben liegt der Modeschmuck, das sind die Wörter des Tages. Sie klingen hip, jung, bescheidwisserisch und viele sind in einen schönen Schein gehüllt, eine schimmernde Schicht aus Moral. Das ist jetzt kein Argument gegen Moralbegriffe, im Gegenteil. Es geht nur um die Art der Aufbereitung und Zurschaustellung. Moral ist kein Schmuck für den Blick in den Spiegel.
Eine Aura unversöhnlicher Bitterkeit
Wer aus Interesse oder Verzweiflung an der Gegenwart in den tieferen Schichten der Sprachschatzkiste wühlt, findet dort härteres Geschmeide. Es stammt aus alten Zeiten und hat viel Dreck und Gestank angesetzt. Auffällig ist, dass es jetzt wieder vermehrt herausgekramt, aufpoliert und präsentiert wird.
Wie kommt es zum Beispiel, dass ich neuerdings auf Wörter wie Niedertracht oder Ruchlosigkeit stoße? Sie strahlen ja doch etwas veraltet Autoritäres aus, eine Aura unversöhnlicher Bitterkeit. Sie sind nicht lackiert mit Moral, sondern durchwirkt von ihr: Moral als Hartsubstanz. Wer solche Vokabeln im Wortschatz führt, ist grundsätzlich bereit, anderen die Legitimität des Handelns, vielleicht sogar der Existenz abzusprechen. Man scheut sich, sie zu verwenden, denn übelste Machthaber haben sie denunziatorisch missbraucht, um Gegner zu diffamieren, die sie dann ermordeten. Will man wirklich so sprechen?
Niederträchtig und ruchlos
Man hat vielleicht keine Wahl. Und dass diese alten Begriffe wie Niedertracht und Ruchlosigkeit wieder auf die Zunge drängen, ist nicht zuletzt Putins Werk. Was anders als ruchlos wäre es denn, den einzigen Oppositionellen, der noch gefährlich werden konnte, Alexej Nawalny, aus Welt und Leben schaffen zu lassen? Was anders als niederträchtig ist es, seit zwei Jahren mit Kriegsgewalt einen Staat von der Karte tilgen zu wollen, der einem nicht ins Machtkonzept passt, nämlich die Ukraine? Was, wenn nicht ruchlos soll es sein, mit Lug und Trug und Fake Ansichten zu züchten und zu füttern, die Demokratien untergraben? und was ist es, wenn nicht niederträchtig, Parteien auch finanziell unter die Arme zu greifen, die ihr demokratisches Land diktatorisch kapern wollen?
Was ist es, um die Dinge weiterzudenken, anderes als Niedertracht, Menschen qua Geburt in Klassen und Rassen zu scheiden, um die Lizenz zu gewinnen, mit angeblich Minderklassigen und angeblich Minderrassigen nach Gutdünken zu verfahren? Ist es nicht auch niederträchtig, eine Museumsdirektorin von einem Podium zu brüllen, wie in Berlin geschehen, weil sie Jüdin ist? Wie sonst soll man das nennen?
Moral muss sich paaren mit Illusionslosigkeit und Nüchternheit
Vieles, was jetzt geschieht, ist menschenverachtend auf je eigene Weise. Die Frage, wie man darüber spricht, damit die richtigen Schlüsse möglich werden - die sollten wir trotzdem noch mal stellen. Junge und alte Moralbegriffe sind vielleicht nicht falsch dafür, völlig falsch aber wäre es, sich in ihnen zu erschöpfen, um sich innerlich zu entlasten. Es geht ja um realitätstaugliche Annäherungen an diese tausendfältige Wirklichkeit: um handeln zu können. Sich empört-verstört über all das Niederträchtige und Ruchlose zu erheben - das kann nur der Anfang sein, als Teil einer möglichen Antwort. Worin besteht der andere Teil?
Der Moralist Erich Kästner, heute vor 125 Jahren geboren, hat voller Ingrimm gedichtet: "Der Mensch ist gut! Wenn er noch besser wäre,/ wär er zu gut für die bescheidne Welt./ Auch die Moral hat ihr Gesetz der Schwere:/ der schlechte Kerl kommt hoch - der Gute fällt." Moral, so will ich das mal deuten, muss sich paaren mit Illusionslosigkeit. Mit Nüchternheit. Man nennt das: Realismus. Der tut jetzt ziemlich weh. Und ist gefragter denn je.
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