Nachgedacht: Neuer Bundestrainer - einer von 84 Millionen
Der für unsere Kolumnisten Alexander Solloch "schönste Job neben Literaturredakteur", der des Bundestrainers, ist jetzt wieder vergeben - an Julian Nagelsmann. Ist er der Richtige?
Das Problem sind ja nicht die Graugänse. Graugänse sind schön und interessant und anmutig, und sie schnattern, was das Zeug hält. Da kann man sich nur freuen, wenn sie einem an Auge und Ohr vorüberflattern. Es ist darum abwegig, Hansi Flick im Nachtreten neben allem anderen nun auch noch vorzuwerfen, dass er versucht hatte, die Fußball-Nationalspieler bei der WM mit einem Film über das sehr beeindruckende Sozialverhalten der Gänse zu motivieren. Jungen Menschen, Angehörigen der TikTok-Generation, argwöhnten die professionellen Argwöhner, brauche man mit so etwas Biederem nicht zu kommen. Das ist natürlich Quatsch: Gerade auf TikTok finden sich Hunderttausende von hunderttausendfach geklickten Graugansvideos.
Lustloser Graugansdompteur Flick
Das Problem ist also - anstelle der Graugans - wie immer der Mensch: Wenn man sich die Dokumentation "All or nothing" über das DFB-Team in Katar anschaut, drängt sich der Eindruck auf, dass der lustlose Bundestrainer diesen Gänsefilm nicht aus ureigener Überzeugung vorführt, sondern weil er weiß, dass da gerade diese Dokumentation entsteht, in der doch bitte gern die Geschichte erzählt werden darf, wie der Graugansdompteur Flick auf den Schwingen seiner Motivationskünste die Mannschaft zum Triumph führt. Das hat ja nun nicht so gut geklappt: Glaubwürdigkeit verleiht kräftigere Flügel als Gefallsucht.
Flanke, Kopfball, Tor: So simpel ist Fußball
Flick hätte sich mit Fußball begnügen sollen, Flachpässe, Freistöße, Zweikämpfe, solche Sachen. Wir leben aber in einer Zeit, in der Fußballtrainer sich mit behauptetem Geheimwissen, angetäuschtem Spezialistentum und dem Talmiglanz von Psychotricks über die ewige narzisstische Kränkung hinwegzumogeln versuchen, dass ihre Disziplin im Grunde bodenlos simpel ist: Flanke, Kopfball, Tor. Immer wollen alle beweisen, dass sie wer sind, statt einfach bloß zu sein. Nur ein Nicht-Trainer wie Rudi Völler konnte überhaupt erst wieder die Hoffnung auf bessere Zeiten wecken.
84 Millionen Menschen warten auf Anruf von DFB
84 Millionen Menschen haben nach Flicks Rauswurf tagelang den Anruf vom DFB erwartet. Sie, liebe Hörerin, wären eine fabelhafte Lösung gewesen, Sie, lieber Hörer, waren auch gesprächsbereit, ich war es natürlich ebenso. Keine Ahnung, was mit unseren Telefonen nicht stimmte, aber nun wird Julian Nagelsmann Bundestrainer. Fußballjournalisten schreiben anerkennend, für dieses Engagement verzichte er - weil er seinen Vertrag beim FC Bayern auflösen muss und der DFB ziemlich pleite ist - auf sehr viel Geld und verdiene wohl nur 400.000 Euro im Monat. Wir hoffen inständig, dass er diese Durststrecke irgendwie übersteht. Wohlweislich läuft sein Vertrag beim DFB nur bis kommenden Sommer; nach dem EM-Vorrundenaus kann er ja dann den Tabellenachten der zweiten saudischen Liga übernehmen und sich wieder sanieren.
"Geht's raus und spielt's Fußball"
Klar, ich male auch deswegen schwarz, um am Ende eines Besseren belehrt zu werden, das klappt im Fußball eigentlich immer ganz gut. Aber die Skepsis ist schon auch begründet: Wie schnell wird Nagelsmann es sich mit seinen Spielern verleiden? Er gehört ja zu jener Art von Trainern, die seit Pep Guardiolas Aufscheinen in Deutschland an jeder Eckfahne aus dem Boden sprießen: Sie sehen den Ball vor lauter Matchplänen nicht. Bei ihnen muss es immer das Besondere sein, das scheinbar Bewunderungswürdige. Weil aber das Publikum vor allem das bewundert, was es nicht versteht, sagen diese Trainer nicht: "Geht's raus und spielt's Fußball", sondern: "Der diametral abkippende Sechser muss in der Spielauslösung vertikal in die Box vorstoßen, wo der Neuneinhalber dann auf die zweiten Bälle geht."
Fußball: ein wunderschön absurdes Spiel
Bislang ist Nagelsmann jedenfalls nicht als jemand in Erscheinung getreten, der bereit wäre, die Einfachheit des Fußballs zu akzeptieren. Es ist ein wunderschön absurdes Spiel, in dem der Kopf nur zum Köpfen benutzt zu werden braucht und alles, was wichtig ist, im Herzen geschieht. "Nach Abpfiff habe ich den Fußball kurz gehasst", sagte Nationalspieler Robin Gosens, Linksverteidiger von Union Berlin, vorgestern nach der extrem knappen Niederlage seines Vereins gegen Real Madrid: "Und gleichzeitig liebe ich ihn über alles." Nicht anders, nehme ich an, schnattern die Graugänse über ihren Flug in den Süden.
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