Ulrich Kühn © NDR Foto: Christian Spielmann

Nachgedacht: Maximal sprachsensibel - Alles irre "ikonisch"

Stand: 02.08.2024 06:00 Uhr

Fällt Ihnen das auch so auf? Das Wort "ikonisch" hat eine irre Karriere hingelegt, es steht ganz hoch im Kurs. Was steckt dahinter? Ulrich Kühn denkt nach:

von Ulrich Kühn

Sprache ist wichtig, höre ich permanent, Sprache prägt Bewusstsein, drum ist beim Denken, Schreiben, Sprechen das Maximum an Sensibilität gefragt, ein Maximum, wie es nur die Allersensibelsten aufbringen, also die, die anderen erklären, dass Sprache… Sie wissen schon.

Ich bin geneigt, das okay zu finden, gegen Sensibilität beim Befühlen von Wörtern ist nichts einzuwenden. Doch wie gelingt nur dieses Kunststück, in aller Hingabe und Achtsamkeit die Sprache zu betasten, zugleich aber immer einen Zeigefinger frei zu behalten, um andere bei Bedarf sprachbelehren zu können? Das kostet doch sicher Kraft. Vielleicht sind Sprachsensible deshalb manchmal so feinhörig und manchmal überraschend so gar nicht.

Vom Charakter bis zur Kaffeetasse - plötzlich alles "ikonisch"

Ein Beispiel: Das Wort "ikonisch" hat eine Weltkarriere hingelegt, die unmöglich gewesen wäre, wenn Sprachsensible nicht geholfen hätten. Es existiert nichts mehr, das nicht für "ikonisch" erklärt würde, vom Charakter bis zur Kaffeetasse.

Kaum gab es nach dem Attentat auf Trump das Blut-Foto mit der Faust, waren sich alle einig, das Bild sei "schon jetzt ikonisch". Weil einem noch der Mund offenstand, fand man das irgendwie treffend, immerhin, es ist ein Bild. Aber was schwingt denn da mit? Es schwingt mit, dass man im Moment des Ereignisses und seiner Abbildung die historische Bedeutung ins Wort fassen könnte. Ungefähr, wie wenn ein Kicker nach dem gewonnenen Spiel ins Mikro raunt, er habe gerade "Geschichte geschrieben". Kleine Anmaßung inbegriffen.

Natürlich sind jede Menge historischer Vor-Bilder zur Hand, die belegen sollen, dass das Foto auch wirklich "ikonisch" sei. Aber Moment: Machen die Trump-Foto-zur-Ikone-Erklärer nicht den inneren Move mit, der die Trump-Anhänger erfasst hat, die ihren Überlebenden zum Messias verklären? Man kommt sich blöd vor, daran zu erinnern, aber Ikonen waren Heiligen- oder Kultbilder. Christus-Ikonen, Marien-Ikonen - wichtig zumal in der orthodoxen Kirche. Das Wort Ikone für Kultbild, altgriechisch-antiken Ursprungs, wurde wohl im 19. Jahrhundert aus dem Russischen ins Deutsche entlehnt. Aus dem Russischen, Hilfe! Wenn das die Sprachsensiblen hören!

Selbsterhöhung oder Gedankenlosigkeit?

Es ist nicht schlüssig, andauernd zu Sprachsensibilität oder "sprachlicher Abrüstung" aufzurufen, während man das Privileg, sich kommentierend zu äußern, zur Lizenz umdeutet, mit hochtönenden Adjektiven durch die Gegend zu schmeißen, um Dinge oder Menschen als irre bedeutend zu markieren. Etwas für "ikonisch" erklären, das geht in solchen Zusammenhängen nicht ganz ohne Selbsterhöhung. Oder ohne Gedankenlosigkeit - weil man Slang mitplappert, den halt alle so plappern, ohne erst zu fragen, was damit ausgedrückt wird.

Die besten Olympia-Fotos? Selbstverständlich "ikonisch". Die arme Taylor Swift? Natürlich ein "ikonischer" Popstar. Charaktere, Gegenstände, Trump mit Blut und Faust - alles wird unterschiedslos "ikonisch".  Denn drunter machen wir’s nicht. Aber warum denn bloß?

Vielleicht deshalb: Man glaubt nicht mehr an die alten Ikonen, will überhaupt nicht mehr glauben - und schafft sich trotzdem neue. Politiker, Popstars, Olympioniken, im Zweifel eine Mütze. Ein Grund, sich aufzuregen? Nein, aber interessant: Wir beten noch immer an, obwohl wir es angeblich nicht mehr wollen. Religiös ohne Religion. Die Umwidmung der Ikone zur Hülse: Ergibt Pseudo-Religion säkular-trivial.  

Oder so ähnlich, ich denke noch nach. Natürlich maximal sprachsensibel.

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NachGedacht | 02.08.2024 | 10:20 Uhr

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Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

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