CDU-Chef Friedrich Merz © dpa Foto: Michael Kappeler
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AUDIO: Nachgedacht: Deutschland ist kein Bierzelt (3 Min)

Nachgedacht: Deutschland ist kein Bierzelt

Stand: 29.09.2023 06:00 Uhr

Tage heftigen Streits um Worte liegen hinter uns. Ermüdend, aber auch nötig. Wie das Nachdenken darüber, wo politische Rhetorik sich Grenzen setzen muss.

von Ulrich Kühn

Wenn ich mir das nächste Mal "die Zähne machen lasse", brauche ich keine Betäubung. Ich sitze auf dem heißen Stuhl und stelle mir etwas Befremdliches vor, sagen wir, den Kopf einer Volkspartei und eine Form der Rhetorik, die so giftig-nervtötend wirkt, dass sie schmerzunempfindlich macht. Tote Nerven spüren nichts. Dann lässt sich sogar die Pein ertragen, die das Gewühl an der Wurzel des Zahns ebenso bereiten kann wie das Niveau der deutschen Debatten. Aber ist das die Lösung? Nichts mehr fühlen wollen?

Grabenkämpfe helfen nicht

Ulrich Kühn © NDR Foto: Christian Spielmann
Ulrich Kühn

Damit Sie mich nicht falsch verstehen und nicht unter die Decke gehen: Ich bin dafür, Situationen auf dem Land und in den Städten realistisch zu beurteilen, Probleme nicht aus der Welt zu drucksen, Überforderung zu sehen und richtige Schlüsse zu ziehen und alles in allem den Schutz von Grund- und Menschenrechten mit einem im guten Sinn Not wendenden Pragmatismus zu betreiben. Abstrakter Idealismus, der auf die Verankerung in einer halbwegs akzeptierten Politik verzichten will, hat auf Dauer nicht den Erfolg, den er sich erhoffen muss. Und ideologische Grabenkämpfe helfen sowieso nicht weiter.

Diffamatorisches Sprechen ist fantasielos

Noch weniger aber hilft, wenn es um Akzeptanz geht, um sachgerechte Diskussionen, um Verständnis für Menschen in Not - noch weniger hilft eine diffamatorische Art des Sprechens, die sich vorsätzlich mit den unschönen Emotionen gemein macht, auf die sie spekuliert. Dass zum Beispiel "die anderen da" etwas bekommen, was wir, denen es doch zustehen würde, angeblich deshalb nicht haben: Das ist, mal abgesehen vom fragwürdigen Sachgehalt, wahrscheinlich eine der ältesten, fantasielosesten und unproduktivsten Gedankenfiguren, die Missgunst, Neid oder Hader in wütende Köpfe pflanzen.

Spitzenpolitiker ist ein anderer Stil zuzutrauen

Man darf voraussetzen, dass Spitzenpolitiker großer Parteien dies wissen. Man darf und muss hoffen, dass sie selbst von solchen Gefühlen frei sind. Man will außerdem vermuten und muss es eigentlich verlangen, dass ihnen die Klugheit verfügbar ist, ihr Credo und ihre Kritik in einer Sprache vorzutragen, die eben nicht darauf spekuliert, den Ausfluss trüber Gefühle zum eigenen Vorteil abzuschöpfen - oder gar, solche Gefühle zu wecken. Das bleibe doch denen überlassen, die nichts anderes können, als in aller Ruchlosigkeit Zulauf dadurch zu erzeugen, dass sie Wut und Zorn erst befeuern. Wären wir so elend dran, dass sich auch eine Volkspartei, eine sogar, die sich christlich nennt, solcher Mittel bedienen müsste? Nein, so elend dran sind wir nicht. Es ist das falsche Mittel zu einem vielleicht vernünftigen Zweck.

 

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Damit Sie mich immer noch richtig verstehen: Bierzeltdeutsch im Bierzelt, das geht schon in Ordnung. Wenn einer auf gut Bayerisch sagt, es gehe ihm was am Popo vorbei, bleibt das Abendland bestehen. Es ist ein bisschen widersinnig, Bierzeltvokabular mit der Feinwaage abzuwiegen. Etwas Robustheit darf sein in der Politik und im gesellschaftlichen Streit.

Wutrhetorik ist verantwortungslos

Kreuzberg ist nicht Deutschland? Schön, kein Problem, das so rauszuhauen. Aber Bierdunst und Wutrhetorik, das geht eben nicht überall und schon gar nicht bei jedem Thema. Nicht, wenn man es ernst meint mit dem Verantwortungspathos, das man pompös vor sich herträgt. Meinungsstreit in der Sache mit einer gewissen Härte ist demokratisch lebensnotwendig. Als Grundsatz dabei gilt: Deutschland ist kein Bierzelt. Hinter diesem Satz steht ein Punkt. Und nicht das kleinste Aber.

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

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Ulrich Kühn, Claudia Christophersen und Alexander Solloch. © NDR Foto: Christian Spielmann

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NachGedacht | 06.10.2023 | 10:20 Uhr

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Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

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