Muslimische Gegenöffentlichkeit: Chancen und Risiken
Ein Kommentar von Said Rezek
In sozialen Netzwerken ist eine muslimische Gegenöffentlichkeit als Reaktion zur tendenziell negativen Islam-Berichterstattung entstanden. Muslimische Blogger vermitteln darin ein alternatives Islambild, weil sie sich mit den Inhalten etablierter Medien kaum identifizieren können. Damit sind Chancen, aber auch Risiken für die Demokratie verbunden.
Am 1. Juli 2009 wurde die Muslima Marwa El-Sherbini im Dresdner Landgericht mit 16 Messerstichen getötet. Der Täter handelte aus islamfeindlichen Motiven - er hatte Sherbini zuvor als "Islamistin" beschimpft. Überregionale Medien haben seinerzeit jedoch kaum über den Mord berichtet.
Das war die Geburtsstunde einer muslimischen Gegenöffentlichkeit im Internet, die über soziale Netzwerke auf diese Tragödie hingewiesen hat. Die Beiträge der Blogger schafften es bis in die Publikationen etablierter Medien.
Bis heute sind die Stimmen der hunderten, wenn nicht sogar tausenden muslimischen Social-Media-Aktivisten nicht verstummt. Die muslimischen Blogger sprechen über muslimischen Feminismus, Spiritualität Diskriminierungserfahrungen und vieles mehr. Sie verbreiten eigene Interpretationen ihrer muslimischen Identitäten, weil die tendenziell negative Islamberichterstattung nicht ihrer Selbstwahrnehmung entspricht.
Als Nichtmuslim hätte ich vor dem Islam auch Angst
In den etablierten Medien geht es, wenn über den Islam berichtet wird, häufig um die Unterdrückung der Frau, Gewaltbereitschaft oder Intoleranz. Keine Frage, diese Probleme existieren unter Muslimen. Aber durch die permanente Fokussierung auf diesem Themenkomplex entsteht ein einseitiges und damit verzerrtes Bild der Realität.
Und das hat ernsthafte Konsequenzen: Etwa jeder zweite Bürger in Deutschland empfindet den Islam als Bedrohung, so das Ergebnis des Relgionsmonitors 2019, einer Bertelsmann-Studie. Lediglich ein Drittel der Befragten betrachten den Islam als eine Bereicherung. Bei anderen Religionen wie Christentum, Judentum, Hinduismus und Buddhismus ist es laut Umfrage jeweils eine Mehrheit.
Vor allem im Osten, wo die Kontakte zwischen Muslimen und Nichtmuslimen seltener sind als im Westen, sind islamkritische bis -feindliche Haltungen stärker ausgeprägt. Kein Wunder! Wenn ich kein Muslim wäre und mein Islambild das Ergebnis der Islam-Berichterstattung wäre, dann hätte ich wahrscheinlich auch Angst vor dem Islam.
Wir brauchen diversere Redaktionen und eine vielfältigere Berichterstattung
Medien müssen ausgewogener über den Islam berichten. Dabei geht es nicht nur um die Muslime, sondern um die Demokratie insgesamt. Die Berichterstattung sollte die vielfältigen Perspektiven in der Bevölkerung abbilden, dazu gehört selbstverständlich auch die innermuslimische Diversität.
Solange Migranten im Allgemeinen und Muslime im Speziellen jedoch in Redaktionen unterrepräsentiert sind, ist das kaum möglich. Laut Schätzungen haben gerade einmal fünf Prozent der Journalisten einen Migrationshintergrund. Gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil müssten es gut 23 Prozent sein. Wir brauchen mehr Vielfalt in den Redaktionen, dazu zählen selbstverständlich auch Muslime.
Chancen und Risiken von Gegenöffentlichkeit
Solange etablierte Medien in Sachen Vielfalt Nachholbedarf haben, sind soziale Netzwerke für muslimische Blogger ein geeignetes Medium, um sich in Teilen der Bevölkerung Gehör zu verschaffen. Das ist im Idealfall ein qualitativer Gewinn für den öffentlichen Diskurs - und damit für die Demokratie insgesamt.
Gegenöffentlichkeiten können jedoch auch demokratieschädlich sein. Schließlich sind Muslime wie Nichtmuslime nicht immun gegen Hatespeech, Fakenews oder Extremismus. Auch davor dürfen die Augen nicht verschlossen werden.