Eine besondere Kunstform: Die Koran-Rezitation
Der Koran ist ein Text, der zum Hören gedacht ist und seit Jahrtausenden mündlich überliefert wird. Das Vortragen hat sich zu einer Kunstform entwickelt, bei der ganz bestimmte Regeln beachtet werden müssen.
Esnaf Begic sitzt in einer Moschee in Osnabrück und rezitiert den Koran. Vor ihm liegt ein Exemplar des Korans, mit offenen Seiten, in arabischer Schrift. Der promovierte Theologe von der Universität Osnabrück ist Hafiz, also jemand, der den Koran auswendig gelernt hat und vortragen kann. Diese Fähigkeit hat er als junger Mann in seiner Heimat Bosnien erlernt.
"Der Koran ist aufgeteilt in 30 Teile, die sogenannten Dschuz", erzählt Begic. "Jedes Teil hat je 20 Seiten. Ich habe das immer so gemacht, dass ich von jedem Dschuz zunächst einmal die letzte Seite auswendig gelernt habe. Dann habe ich die vorletzte Seite des ersten Dschuz auswendig gelernt, dabei die 20., die letzte, wiederholt, und so bis zum 30. Teil. Das nannten wir damals einen Kreis.“
Der Koran in erster Linie ein Text zum Hören, nicht zum Lesen
Drei Jahre, im Alter von 15 bis 18, hat der ehemalige Imam gebraucht, um die rund 7.000 Verse auswendig zu lernen. Das Auswendiglernen des Korans ist eine jahrhundertealte Tradition, die schon zu Beginn des Islam gepflegt wurde - in einer Zeit, in der die Mehrheit der Menschen des Lesens und Schreibens nicht mächtig war: "Damit man die Weitergabe des Korans überhaupt ermöglichen konnte, musste man auch den Koran auswendig lernen", sagt Begic. Die zweite Sache ist, dass das Auswendiglernen des Korans auch dazu dient, den ursprünglichen Inhalt des Korans zu bewahren.“
Daher gehen Musliminnen und Muslime davon aus, dass der Koran bis heute in der Form vorliegt, wie er seinerzeit offenbart wurde. Erst später wurde die mündlich tradierte Version schriftlich fixiert und in Buchform festgehalten. Daher ist der Koran in erster Linie ein Text zum Hören, nicht zum Lesen. Der Begriff "Koran", auf Arabisch "Qur’an", heißt übersetzt: "Lesung" oder "Vortrag". Und durch seine Rezitation wirkt es auf die Hörenden, als sei Gott präsent.
Koranrezitatoren werden wie Popstars gefeiert
Die Rezitation des Koran ist in der arabisch-islamischen Welt eine eigene Kunstform, die großes Ansehen genießt. Anlässe, um den Koran vorzutragen, gibt es viele: religiöse Feiern, Hochzeiten, Trauerfeiern. Im gerade abgelaufenen Fastenmonat Ramadan wird traditionell der ganze Text vorgetragen, jeden Tag einer der 30 Teile. Manche Koranrezitatoren genießen großes Ansehen in der islamischen Welt, werden wegen ihrer Stimmen und ihrer Vortragskunst wie Popstars gefeiert. In internationalen Wettbewerben messen sich Koranrezitatoren, wer den schönsten und besten Vortrag hat.
Um den Koran, nach muslimischer Überzeugung das authentische Wort Gottes, gut und richtig vorzutragen, gibt es Regeln. Dafür sind im Text Zeichen als Hilfen festgelegt - wie bei einer Partitur. "Dazu gehört beispielsweise, wie manche Buchstaben ausgesprochen werden, ob sie ineinander vermischt werden, ob sie nasal ausgesprochen werden, ob man innerhalb eines Koranverses beispielsweise einen Halt machen kann, ob man ab der Stelle weiter rezitieren darf oder ob man vielleicht ein paar Worte zurückgehen muss, sie wiederholen muss oder weiter rezitiert", erklärt Begic.
Koranrezitation hat auch spirituelle Dimension
Den Koran auswendig lernen und rezitieren - für Musliminnen und Muslime spielt dies nicht nur unter ästhetischen Gesichtspunkten eine Rolle. Es hat auch eine wichtige spirituelle Dimension: "Schlussendlich ist auch die Eigenart des Korans auch die, dass sowohl seine Rezitation aber auch das Auswendiglernen zum Gottesdienst gehören, dass das eine religiös ansehnliche Tat ist", so Begic.