"Vater hat uns nie erzählt, was passiert ist"
Die Familie Hahn war einst eine der angesehensten Familien Göttingens. Max Raphael Hahn war ein großer Sammler. Gemeinsam mit seiner Frau wurde er in der Zeit des Nationalsozialismus deportiert und ermordet. Seine Sammlung von Judaica, rituellen Silberstücken, gilt größtenteils als verschollen. Die Nachfahren lassen jetzt nach der Sammlung suchen und versuchen die Geschichte aufzuarbeiten. Jonathan Hayden, ein Enkel von Max Raphael Hahn, lebt in Kapstadt, Südafrika - und sammelt auch.
Meinen Sie, es gibt so etwas wie ein Sammler-Gen?
Jonathan Hayden: Ja. Einige Stücke, die mein Vater retten konnte, besitze ich immer noch. Sie gefallen mir. Ich sammele auch: vor allem Chanukkia-Leuchter. Aber ich kaufe keine mehr, wohin damit?
Was wissen Sie über die Beziehung zwischen Ihrem Vater und Ihrem Großvater?
Hayden: In der Pogromnacht 1938 wurde mein Großvater, der Kaufmann Max Raphael Hahn, inhaftiert. Aber am schrecklichsten war, dass er aus dem Gefängnis mitansehen musste, wie die Synagoge abbrannte. Er war Vorsteher der jüdischen Gemeinde. Sie können sich nicht vorstellen, wie mein Großvater sich gefühlt haben muss. Mein Vater Rudolf besuchte meinen Großvater im Gefängnis, um sich zu verabschieden. Er wollte mit dem Schiff nach London emigrieren und versuchte auf meinen Großvater einzuwirken, mit ihm zu kommen. Mein Großvater Max war sehr verärgert darüber und sagte, er sollte ihm nicht vorschreiben, was er zu tun habe. Und er dürfe so nicht mit ihm vor den Augen der Gestapo sprechen. Sie hatten nur zehn Minuten, in denen sie sich verabschieden konnten. Das war das letzte Mal, dass sie sich gesehen haben.
Was hat Ihr Vater Ihnen von seinem Leben in Göttingen erzählt?
Hayden: Er hat uns nie erzählt, was mit seinen Eltern passiert ist. Wir sind nie dahin gekommen, darüber zu sprechen. Und er hat kaum Deutsch gesprochen. Das hat ihm wohl geholfen, sein Trauma zu verarbeiten. Aus Respekt ihm gegenüber habe ich nie einen Mercedes gefahren oder Küchengeräte von Bosch gekauft. Ich habe das respektiert, aber er hat es nie erklärt. Erst nach seinem Tod habe ich mehr erfahren. Eine der eindrücklichsten Geschichten über meinen Vater ist wohl, wie er zur britischen Luftwaffe kam, um Fracht zu fliegen. Er bewarb sich 1939 und wurde erst sieben Monate später genommen, als die Briten ausschließen konnten, dass er ein Spion ist. Er änderte seinen Namen von Rudolf Hahn in Roger Hayden um. Und er trainierte sich seinen deutschen Akzent ab. Falls er abgeschossen worden wäre, wollte er nicht als Deutscher erkannt werden, um seine Familie nicht als möglicher Verräter in Schwierigkeiten zu bringen. Ein Foto zeigt sogar, wie er eine Friedens-Parade in Göttingen anführt, 1946. Ist das nicht unglaublich? Eine Friedens-Parade in Göttingen - in britischer Uniform in Deutschland. Es ist mir kalt den Nacken heruntergelaufen, als ich das gesehen habe.
Welche Erinnerungen haben Sie an Ihren ersten Besuch in Göttingen?
Hayden: Es ist leider eine schlimme Geschichte. Ich kam 1974 mit meinem Vater nach Göttingen. Zu der Zeit lief auch die Fußballweltmeisterschaft. Ich war Student, und meine damalige Freundin war auch da. Sie war mit einer Gruppe Studenten aus Kapstadt dort. Ich wollte sie in ihrem Hotel besuchen, aber ich durfte nicht. Ich wollte auch gar nicht zu ihr aufs Zimmer, nur mit ihr in der Lobby sitzen. Aber der Betreiber des Hotels und sein Sohn haben mich aus dem Hotel gestoßen und geschlagen. Ich wusste nicht, was vor sich geht, ich war 19 Jahre alt. Ich habe mich gewehrt, aber ich bin eigentlich keine gewalttätige Person. Ich kann mir nicht erklären, was der Grund war. Außer, dass ich jüdisch bin.
Im Jahr 2014 hat das Städtische Museum in Göttingen Möbel an Ihre Familie zurückgegeben, die einst Ihre Großeltern besessen haben. Was hat das in Ihrer Familie ausgelöst?
Hayden: Es war schön, als Familie zusammenzukommen. Wir Nachkommen leben auf vier verschiedenen Kontinenten, in dieser Hinsicht sind wir uns nicht nah, wir kennen uns auch nicht gut. Aber seitdem versuchen wir öfter zusammenzukommen.
Das Interview führte Sophia Münder.