Radikal subjektiv: Gefeierter Film "Nickel Boys"
"Nickel Boys" ist eine herausragende Literaturverfilmung - ein Film, wie man ihn so noch nie gesehen hat. RaMell Ross, eigentlich Dokumentarfilmer, hat den preisgekrönten Roman von Colson Whitehead auf radikal subjektive Weise auf die Leinwand gebracht.
"Nickel Boys" hat zwei Oscar-Nominierungen bekommen - als bester Film und für das beste adaptierte Drehbuch. Es gibt aber keinen regulären Kinostart. Der stilistisch besondere Film ist nur bei Amazon Prime zu sehen - eine schwer nachvollziehbare Entscheidung.
Wahre Ereignisse an "Dozier School for Boys" in Florida
Wie schon Colson Whiteheads mit dem Pulitzer-Preis prämierter Roman "Nickel Boys" erzählt auch der Film von wahren Ereignissen: den Misshandlungen an der "Dozier School for Boys" in Florida, die erst 2011 geschlossen wurde. Über 100 Jahre lang wurden dort junge Schüler brutal gequält, viele starben und wurden in anonymen Gräbern verscharrt.
Die Handlung setzt Anfang der 1960er-Jahre ein. Elwood ist ein aufgeweckter Junge. Sein Lehrer will ihn aufs College schicken. Doch dann fährt er per Anhalter, ohne es zu wissen, in einem gestohlenen Auto mit. Allein die Tatsache, dass er Schwarz ist, reicht für eine Verurteilung. Statt auf dem College landet er in der Hölle der Nickel Academy, einer Besserungsanstalt, in der Gewalt und Rassismus den Alltag bestimmen. Hier trifft er auf Turner und zwischen den beiden entsteht eine enge, aber fragile Freundschaft.
Ich dachte immer, draußen ist … draußen. Und wenn man erstmal hier drin ist, dann ist man hier drin. Aber jetzt, wo ich draußen war und zurückgebracht wurde, weiß ich es. Da draußen und hier drin ist es das Gleiche. Nur hier drin muss sich niemand mehr verstellen. Filmzitat aus: "Nickel Boys"
RaMell Ross wählt subjektive Perspektive
Was den Film so besonders macht, ist nicht nur seine berührende Geschichte, sondern vor allem die Art, wie sie erzählt wird. Der gesamte Film ist aus der Perspektive von Elwood (Ethan Herisse) und Turner (Brandon Wilson) gedreht. Wir sehen, was sie sehen. Die Kamera ist so subjektiv wie selten im Kino. "Es ist viel einfacher, als man sich vorstellen könnte. Du hast als Gegenüber keinen Schauspieler, sondern einen Kameramann", beschreibt Regisseur RaMell Ross die Kameraarbeit in einem Interview mit dem amerikanischen Radiosender NPR. "Für die Schauspieler war das schon eine Umstellung, weil ihr Szenenpartner der Kameramann war."
Archivmaterial aus Nickel-Academy

Zusätzlich setzt der Film auf Archivmaterial. Er zeigt Schwarz-Weiß-Fotografien und Videoaufnahmen - echte Bilder der historischen Nickel Academy, ihrer Gebäude, ihrer Insassen. Dadurch wird klar: Das hier ist nicht nur Fiktion. Es ist eine Geschichte, die unzählige Jungen durchleben mussten. RaMell Ross wollte durch die subjektive Kameraführung zu verdeutlichen, dass diese Geschichte eben nur eine von vielen Wahrheiten erzählt, sagt er. "Die Kamera zu einem Organ zu machen bedeutet zunächst, anzuerkennen, dass sie etwas ist, das andere Menschen objektiviert, das abstrahiert, das gewissermaßen falsche Wahrheiten erzeugt", erklärt Ross. Das sei für ihn eine Strategie, die sicherstelle, dass der Betrachter des Films weiß, dass es ein Werk und deswegen subjektiv ist.
Alligator als Symbol für grausame Praxis
Leicht macht es Ross uns Zuschauern nicht, denn außer den Archivbildern gibt es weitere stilistische Spielereien. So taucht immer wieder ein Alligator auf, schleicht durchs Bild, lauert im Wasser. Er ist ein Symbol für eine grausame Praxis: Afroamerikanische Kinder wurden im 19. und frühen 20. Jahrhundert als Köder für Alligatoren verwendet. Im Film steht das Raubtier für eine ständige, unterschwellige Bedrohung - und für ein System, das darauf wartet, seine Opfer zu verschlingen.
- Machen die das mit jedem so?
- Mann, du hattest nochmal Glück.
- Glück?
- Manchmal werfen sie dich in die Hölle, unter dem fetten Teerdach, in die Schwitzkiste, da schwitzt du dich zu Tode. Manchmal nehmen sie einen mit und der wird nie wieder gesehen.
- Was?
- Wenn die Eltern dann nachfragen, heißt es, du wärst weggelaufen.
Dialog aus: "Nickel Boys"
Herausfordernd und innovativ
"Nickel Boys" zehrt an den Nerven, inhaltlich, aber auch stilistisch. Die experimentelle Herangehensweise von Regisseur RaMell Ross macht ihn zu einem der innovativsten Filme des Jahres. Aber sie schafft auch eine gewisse Distanz, macht das Zuschauen komplex und herausfordernd und schmälert manchmal die emotionale Wucht des Geschehens. Trotzdem erzählt der Film die Geschichte von Elwood und Turner anders als Whiteheads Roman. Auf eine Art und Weise, die man so schnell nicht vergisst.
Nickel Boys
- Genre:
- Drama
- Produktionsjahr:
- 2024
- Produktionsland:
- USA
- Zusatzinfo:
- mit Daveed Diggs, Aunjanue Ellis-Taylor, Ethan Herisse, Brandon Wilson, u. a.,
- Regie:
- RaMell Ross
- Länge:
- 140 Min.
- FSK:
- ab 16 Jahre
