Fassbinders Filme: Einblicke in die Seele der Deutschen
Rund 40 Filme hat Regisseur Rainer Werner Fassbinder produziert. Sein Fleiß ist legendär und auch seine Vorliebe für starke Frauenfiguren, die in seinen Filmen oft die Hauptrolle spielen.
Er starb mit nur 37 Jahren, drehte mehr als 40 Filme, zwei Fernsehserien und mehrere Kurzfilme und schrieb 24 Theaterstücke. Die Rede ist von Rainer Werner Fassbinder, der 1982 in München an einer Überdosis Drogen starb. NDR Kultur hat mit Filmkritikerin Katja Nicodemus über Fassbinder gesprochen, über das, was ihn ausmacht und über das, was von ihm bleibt.
NDR Kultur: Frau Nicodemus, was macht Fassbinder für Sie persönlich aus, was bewundern, was schätzen Sie an seinem Werk besonders?
Katja Nicodemus: Für mich erscheinen in der Erinnerung an die Filme vor allem die großen Frauenfiguren. Diese Frauen, die auf so verzweifelte, stolze Weise an sich selbst vorbeileben und an sich selbst vorbeilieben.
Das sind die schillerndsten, widersprüchlichsten Heldinnen des deutschen Nachkriegskinos: Margit Carstensen in "Martha" und in "Die bitteren Tränen der Petra von Kant". Hanna Schygulla als "Maria Braun" und als Effi Briest. Oder auch Barbara Sukowa in "Lili Marleen", Ruth Leuwerik, Irm Hermann, Brigitte Mira.
Es brauchte einen Regisseur wie Fassbinder, um mit diesen deutschen Schauspielerinnen auf glamouröse Weise falsche Wahrheiten oder wahre Falschheiten auf die Leinwand zu bringen. Fassbinder schenkte diesen Darstellerinnen wirklich große Melodramen. Er war überhaupt der deutsche Regisseur mit dem besten Gespür für Melodramen, für melodramatische Konflikte oder das große gesellschaftliche Drama, in dem dann das Scheitern dieser Figuren aufgeht.
Wie würden Sie Fassbinder im deutschen Kino einordnen, wenn er sich überhaupt einordnen lässt?
Nicodemus: Fassbinder war ein fieberhafter, berserkerhafter Zeitdiagnostiker und er lässt sich nicht einordnen, weil er ein sich ständig wandelndes Filmuniversum geschaffen hat. Die frühen "Film noir"-Erkundungen Ende der 1960er-Jahre: "Katzelmacher", "Götter der Pest", "Liebe ist kälter als der Tod" - das waren Filme über die Dialektik von Liebe und Gewalt. Dann der Blick auf die 50er-Jahre mit "Händler der vier Jahreszeiten" und der analytische Blick auf die jüngere deutsche Geschichte in "Die Ehe der Maria Braun" und "Lili Marleen".
Durch die Neuverfilmung von "Berlin Alexanderplatz", die ja auf der Berlinale 2020 lief, muss man vielleicht auch noch mal an Fassbinders gleichnamige Serie erinnern. Eine großartige 14-teilige melodramatische und analytische Erzählung der Weimarer Republik, sein "Berlin Alexanderplatz".
Fassbinders Exfrau und wichtigste Gefährtin, die Schauspielerin Ingrid Caven, hat einmal gesagt, dass Fassbinder zum wilden Wunderkind stilisiert worden sei. Aber es sei eben ein deutsches Wunderkind gewesen, das nach dem deutschen Desaster des Krieges unsere kleinbürgerliche Mentalität und Spießigkeit in ein grandioses Marionettentheater verwandelt habe. Schöner kann man es, glaube ich, nicht sagen.
Fassbinders Filme haben eine sehr besondere Ästhetik, wie könnte man sie beschreiben?
Nicodemus: Seine Filme hatten von Anfang an eine sehr bewusste Künstlichkeit. Es hat ihn nicht interessiert, die Realität auf realistische Weise wiederzugeben. Das hat mit einer über Jahrzehnte hinweg von Anfang an mit dem Kameramann Michael Ballhaus entwickelten Bildsprache zu tun. Es gibt zum Beispiel ein Leitmotiv der visuellen Brechung und Verfremdung durch Kreisfahrten, durch Spiegelungen, durch das Spiel mit Rahmungen.
Die Figuren werden nicht einfach nur gezeigt, sondern der Blick auf sie wird Teil des Bildes. Ganz wichtiger Bestandteil dieses künstlerischen Zugriffs ist die Sprache. Da sind die bewusst armen, reduzierten Dialoge. Fassbinder hat der deutschen Sprache eine große Poesie abgewonnen und manche seiner Dialoge sprechen oder lesen sich wie Gedichte.
Was bleibt von Rainer Werner Fassbinder, was bleibt von ihm in Deutschland und vielleicht auch international?
Nicodemus: Rainer Werner Fassbinder ist international ein größerer Star als in Deutschland. In Frankreich ist er eine Mischung aus Mythos und Institution. Das New Yorker Moma pflegt sein Erbe mit großem Engagement. Natürlich wird er hierzulande als einer der wichtigsten Regisseure der deutschen Kinogeschichte begriffen.
Aber Fassbinder hat diesem Land eben in die Seele geblickt und vor einem solchen Blick fürchtet man sich auch ein bisschen. Seine Figuren sind letztlich allesamt Exilanten innerhalb der deutschen Gesellschaft und kein anderer deutscher Regisseur hat unsere Gesellschaft luzider und schonungsloser gezeigt - und das in gerade einmal 15 Jahren und mit mehr als 40 Filmen. Angesichts einer solchen sich selbst verzehrenden Schaffenskraft kann einem schwindelig werden.