Phillip Prodger - über Sinn und Wesen der Porträtfotografie
Der Kunstform des Fotoporträts hat der Kunsthistoriker Phillip Prodger einen ganzen Fotoband mit dem schlichten Titel "Das Porträt in der Fotografie" gewidmet.
Die Darstellung menschlicher Figuren ist ein altes Motiv: von Wandmalereien über Totenmasken bis zu Stein- und Bronzefiguren. Seit etwa 150 Jahren hat das gemalte Porträt durch die Entwicklung der Fotografie zunehmend Konkurrenz bekommen.
Sie war selbst eine berühmte Fotografin und hat uns die Kriegswirren in schonungsloser Direktheit vor Augen geführt: Lee Miller, Fotojournalistin der 30er- und 40er-Jahre, war außerdem ein ausdrucksstarkes Modell, in jungen Jahren Man Rays Muse und Schülerin.
Von ihm stammt ihr Schwarz-Weiß-Portrait auf dem Cover des Bildbandes. Lee Miller, sitzend, mit hochgesteckten Haaren, in einem Kleid mit Hahnentrittmuster und hochgeschlossenem Kragen mit Schleife, die Hände vor dem Bauch verschränkt, blickt tief und direkt in die Kamera.
Was macht ein gutes Porträt aus?
So klassisch wie es das Coverfoto suggeriert, ist der Fotoband von Phillip Prodger nicht. Selten zeigt er die hochstilisierten Blick-in-die-Kamera-Aufnahmen. Die gibt es auch, aber eher dann, wenn von der Entwicklung der Fotostudios die Rede ist und wenn Prodger die Rolle des Fotografen zu Beginn der Fotografie beschreibt: Der "begnadete" Mann, der die Familie verewigt, ähnlich wie einst die Maler in ihren Bildern.
Acht Kapitel unterteilen den Bildband, der sich trotz dieser Einteilung durchblättern und wie ein buntes, vielschichtiges Blumengebilde betrachten lässt. Von "Fotografie für ein digitales Zeitalter" über "Modefotografie", "klassische Studiofotografie" bis hin zu "Straßenporträts". In jedem Kapitel zeigt Prodger eine größtmögliche Vielfalt an Porträts, auch wenn ihn ähnliche Gesichtsausdrücke oder Motive zu Gegenüberstellung aus verschiedenen Zeiträumen inspirieren.
Die Nuancen im Gesichtsausdruck gewinnen an Bedeutung
Der Blick eines Samurai zum Beispiel, 1864/65 fotografisch mit einer gewissen Faszination am Fremden festgehalten, spiegelt sich rechts daneben in der ähnlichen Mimik eines Jugendlichen mit Hoodie und Baseballcape. Es sind die Nuancen im Ausdruck und die perfekte Ausleuchtung von Raum und Objekt, die diese Fotos so ansprechend machen.
Ein paar Berühmtheiten tauchen hier und da im Band auf: Frida Kahlo, Marilyn Monroe, die "schwedische Sphinx" Greta Garbo, Queen Elizabeth oder Barack Obama. "Ein wirklich gutes Porträt", schreibt Prodger, "ist eine Zusammenarbeit und Übereinkunft zweier Willen, bei dem Fotograf und Dargestellter sich gegenseitig beeinflussen, um am Ende ein überzeugendes Resultat zu erreichen."
Auch Selfies tragen zur Entwicklung des Genres bei
Man fühlt sich von Phillip Prodger an die Hand genommen wie bei einer gelungenen Führung durch die Sammlung. Bezüge, warum sich was wie entwickelt hat und was in den Fotos zum Ausdruck kommen soll, fügen sich zu einem stimmigen Ganzen. Dass beispielsweise der Selfie-Markt den Blick auf das Porträt verändert hat und die vielen Fotos, die für das Bebildern von Online-Inhalten gebraucht werden.
Eine frühe, ungewöhnliche Selfie-Reihe zeigt Fred Holland Days "Die sieben Worte" von 1898. Der Fotograf hatte gehungert, sich von Nachbarn ans Kreuz schlagen lassen und das Leiden Christi nachgestellt: Wie Gemäldetafeln in einem breiten, mehrteiligen Altarbild zeigen die Schwarz-Weiß-Bilder, in denen das weiße Hemd verblasst und der Gesichtsausdruck überhöht wird, wie Jesus alias Fred Holland Day den Blick fragend zum Himmel wendet, bevor er in den letzten drei Bildern zusammenbricht.
Prodger unterteilt sein Buch in viele Kapitel ohne längere Texte
Im Kapitel "Von Angesicht zu Angesicht - Porträt und Emotion" geht es auch um das Experimentieren mit Fotografie zu medizinischen Zwecken: Das Bebildern von Geisteszuständen und wie Darwin als Studie vor der Kamera Abscheu, Empörung und Gleichgültigkeit darstellte. Prodger schreibt:
"Darwin waren die Unterschiede zwischen erlernter Geste und angeborener Mimik noch nicht so bewusst wie nachfolgenden Gelehrten. Trotzdem: Die Fotografien, die Rejlander für Darwin anfertigte, sollten Generationen von Wissenschaftlern und Fotografen beeinflussen." Leseprobe
Phillip Prodger erklärt einzelne Fotos mit knappen Texten, hinzu kommen fünf bis sechs reine Textseiten, in denen nur kleine erklärende Fotos das Einordnende unterstreichen. Ein umfängliches Buch, das auf 240 Seiten im leicht verbreiterten Din-A-4-Format einen spannenden Einblick gibt in Sinn und Wesen der Porträtfotografie und in ihre verschiedenen Techniken. Bestechend - wie ein gut gemachtes Porträt.
Das Porträt in der Fotografie
- Seitenzahl:
- 240 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Zusatzinfo:
- Hardcover, Pappband mit Schutzumschlag, 23,5 x 27,5 cm, 200 farbige Abbildungen
- Verlag:
- Prestel/Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
- Bestellnummer:
- 978-3-7913-8795-6
- Preis:
- 35,00 €