"Annie Leibovitz" zum 75.: Ein Foto-Manifest der Popkultur
Annie Leibovitz, eine der bekanntesten Fotografinnen der Welt, ist 75 Jahre alt geworden. Vor zwei Jahren hat der Taschen Verlag die gigantische SUMO-Ausgabe ihrer Werke in einer leichteren und kleineren Edition erneut veröffentlicht.
Würden diese Aufnahmen ebenso stark beachtet werden, wenn keine Popstars und Hollywood-Granden darauf zu sehen wären?
Patti Smith, verschwitzt, in durchsichtiger Bluse vor lodernden Ölfässern, in rebellischem Punk-Chic; Leonardo DiCaprio als junger Snob und Narziss, in Anzug und hochgeschlossenem Hemd steht er irgendwo in der Prärie herum; Mick Jagger in Kreuzigungspose, vollbärtig, jede einzelne Rippe zeichnet sich ab unter seiner blassen Haut; Joni Mitchell in langem Kleid und Mantel, rauchend hockt sie auf einem kreisrunden Brunnenrand in einem geheimnisvollen, üppig wuchernden Garten.
Und nun stelle man sich vor: irgendeine flachbrüstige Punk-Göre in einem Brennpunkt-Stadtteil, ein selbstverliebter Gymnasiast aus einem Besserverdiener-Haushalt, ein hagerer Soziologie-Student auf dem Jesus-Trip und eine Hosenverkäuferin bei einer Zigarettenpause im Hinterhof. Es könnten die gleichen Bilder sein, nur dann nicht mehr in Hochglanz-Magazinen wie "Rolling Stone" oder "Vogue" abgedruckt.
Leibovitz' Fotos werfen immer Fragen auf
Allerdings wären es immer noch hervorragende Bilder. Und sobald sich die Betrachter nur etwas Zeit zum Nachdenken nehmen, werfen diese Bilder Fragen auf: Was unterscheidet DiCaprio eigentlich von dem Bubi mit zuviel Taschengeld? Was die kanadische Songpoetin von der Mode-Einräumerin beim Jeans-Discounter? Zumindest äußerlich weniger, als man spontan glaubt. Und so entmystifiziert Leibovitz ihre prominenten Motive ebenso, wie sie zu deren Mythos beiträgt. Und das tut sie zweifellos: "Das ist diese Sache mit der Seele im Porträt. Wenn jemand sagt: 'Sie haben meine Persönlichkeit wirklich erfasst', dann lache ich nur, denn ein Porträt ist ja bloß ein kurzer Moment, den man mit jemandem teilt", erzählt Leibovitz im Interview über ihre Arbeit.
Es klappt nicht immer beim ersten Mal
Klingt bescheiden: Star treffen, Auslöser drücken, fertig - und das eine Bild wird ausgewählt, auf dem die Person gut aussieht? Das kann nicht alles sein bei Leibovitz‘ Aufnahmesessions, die erstaunlich viel über die fotografierte Person verraten. Und wirklich: Da ist mehr: "Ich hatte nie Angst davor zurückzugehen. Wenn ich ein Porträt aufgenommen hatte und nicht zufrieden war, ging ich nochmal zurück. Viele machen das nicht; sie denken, wenn sie es beim ersten Mal nicht hinkriegen, dann war's das."
Ein bemerkenswerter Hinweis: Leibovitz hat also eine Idee von der fotografierten Person im Kopf, und wenn nur unbewusst. Am Ende einer Session ist es zu sehen - oder auch nicht; dann braucht’s eben noch einen Versuch. Wann genau aber ist die Fotografin nicht zufrieden? Das verrät sie nicht, und der Interviewer hat leider versäumt nachzufragen. Bleiben also nur die Fotoporträts und der Versuch des Betrachters, selbst zu interpretieren.
Annie Leibovitz' ungezügelter Sammeltrieb
Cindy Crawford, splitternackt, verführerisch, stehend vor Blattwerk; Schultern und linke Brust von einer Schlange umkringelt: Eva im Paradies? Ihre ganze Haltung, der leicht vorstehende linke Fuß ähneln frappierend Botticellis Venus, nur dass deren langes Haar hier von einer Python ersetzt ist.
Miles Davis‘ Gesicht in aufdringlicher Großaufnahme, gehetzter Blick aus rot-geäderten Augen: ein von Dämonen beherrschter, manisch-genialer Jazz-Revolutionär mit wild abstehender Lockenmähne, dessen Trompeten-Mundstück bereits eine untilgbare Kerbe in seine Oberlippe gepresst hat.
Manche Symbolik gerät Leibovitz überdeutlich, etwa beim schmerbäuchigen Beach Boy Brian Wilson am Pool vor gewittergrauem Himmel, oder im Wildnis-Garten von Zeichner und Kinderbuch-Autor Maurice Sendak mit zähnebleckendem Hund.
Aber ist es nicht brillant, ein Psychogramm in nur ein Bild zu packen? Und ist es nicht zu simpel, mit ungezügeltem Sammeltrieb nahezu jeden Hollywood-Star abzulichten, dagegen Menschen ohne Promi-Status zu ignorieren? Womöglich stimmt beides. Das Urteil liegt allein im Auge der Betrachter.
Annie Leibovitz
- Seitenzahl:
- 556 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Verlag:
- Taschen
- Bestellnummer:
- 978-3-8365-8219-3
- Preis:
- 125 €