Mehr als 50 Jahre Tatort: Deutschland einig Krimiland
Am 29. November 1970 strahlte der Vorläufer des Ersten Deutschen Fernsehens "Taxi nach Leipzig" aus - den ersten "Tatort" überhaupt, eine Produktion des NDR.
Regie führte Peter Schulze-Rohr, den Kommissar Paul Trimmel spielte Walter Richter. Die Quote lag bei sagenhaften 61 Prozent. Seitdem hat die ARD mehr als 1.000 "Tatort"-Fälle gesendet - und die Begeisterung des Publikums ist nach wie vor groß: Immer noch versammeln sich sonntags um 20.15 Uhr die Krimifans vor dem Fernseher, um den Ermittlern aus allen Teilen der Republik zuzuschauen - oder sie sehen den jüngsten "Tatort", wann und wo sie wollen, in der ARD Mediathek.
Die allerletzte Konstante
50 Jahre alt wird am Wochenende der Tatort in der ARD. Für eine Fernsehserie ist das ein geradezu biblisches Alter. Die Sehgewohnheiten des Publikums ändern sich in so einer Zeit, die Interessengebiete, der Sinn für Humor. Das allermeiste des Unterhaltungsprogramms, was 1970 in den Fernsehzeitschriften angekündigt wurde, gibt es längst nicht mehr. Aber der Tatort geht am Sonntag in seine 1.146. Auflage. Wie immer um viertel nach acht, wie immer nach der unverkennbaren Titelmelodie von Klaus Doldinger, wie immer nach dem Vorspann mit den hektisch durch einen Schlitz blickenden Männeraugen. Der Tatort ist die allerletzte Konstante.
Über die Ursachen dieser Langlebigkeit ist viel nachgedacht worden, und oft wird behauptet, der Tatort wäre so eine Art deutsches Museum. Alle großen Themen seit den frühen Siebzigern seien behandelt, abgearbeitet worden. Das stimmt aber gar nicht. Richtig ist: Man kann im Tatort in die Kleiderkammern verschiedener Jahrzehnte schauen, man bestaunt fassungslos machende Frisuren der Vergangenheit. Und man kann sehen, wie sich die Kommissare verändern. Beamte, Vaterfiguren, dann Melancholiker wie Haferkamp, dann der antiautoritäre Schimanski, dann immer mehr Frauen, schließlich Ermittlerteams, Clowns. Aber die Themen der Zeit? Die Nachwirkungen der Gräuel des Dritten Reiches zum Beispiel, in der Realität lange ein prägendes Thema, kamen in den Geschichten des Tatorts selten und nur ganz am Rand vor. Und bis die erste schwarze Kommissarin ihren Dienst in einem Tatort-Team antrat, musste es auch erst 2019 werden. Die Realität war da beim Thema Integration schneller und weiter.
War früher wirklich alles besser?
Der Erfolg des Tatorts hat mit etwas Gefühligerem zu tun, man merkt das, wenn man parallel zu einer Tatort-Ausstrahlung beim Kurznachrichtendienst Twitter reinschaut. Dort versammelt sich die Fangemeinde pünktlich bei Sendebeginn und motzt über das, was da zu sehen ist. Es geht um Frustabbau. "Wie ist die Lage? Meckern schon alle, wie schlecht dieser Tatort ist?" twitterte am vergangenen Sonntag ein User und bekam bald die Antwort: "Eine klare 6. Einfach schlecht." Beurteilt wurde das jüngste Abenteuer des Wiesbadener Kommissars Felix Murot, gespielt von Ulrich Tukur, der das Publikum seit jeher auf die Probe stellt. Tukurs Krimis sind Kunstwerke, doppelbödige Kriminalkomödien, die den Tatort-Traditionalisten alles abverlangen. Mancher wünscht sich dann zurück in die Zeit der Anfänge, als angeblich im Tatort noch einfache Geschichten mit Bankräubern und Geiselnahmen erzählt wurden. "Früher konnte man sich auf Sonntagabend und den Tatort freuen! Wird uns auch langsam abgewöhnt!" So klingt ein klassischer Tweet eines Publikums, das das Vergangene verklärt. Alte Regel, die auch auf den Tatort runtergebrochen werden kann: Unsre Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.
War denn früher wirklich alles besser im Tatort? Also spannender, aufregender, abwechslungsreicher? In den Zeitungsarchiven kann man aus Leserbriefen und TV-Kritiken jedenfalls das Gegenteil von Euphorie herauslesen. Aus der "Süddeutschen Zeitung", Besprechung der Folge 6, "Frankfurter Gold", 1971: "Es ist schon ein Kreuz mit dieser Reihe. Alles verblasste wieder an der langweiligen Gesamtentwicklung." Insgesamt schien der Anteil der gelungenen Stücke höher, was aber vor allem daran lag, dass es weniger Tatorte im Jahr gab. Und manches funktionierte nur in seiner Zeit. Die Hamburger Kommissare Stoever und Brockmöller (Manfred Krug und Charles Brauer) waren in ihren späten Abenteuern singende und Mundharmonika spielende Karikaturen. Und, was das Frauenbild der frühen Jahre angeht: Die Damen waren Beiwerk, dienstbare Geister. Sie machten dem Kommissar, wenn er spätabends nochmal auf ein paar allerletzte Fragen vorbeikam, gern ein paar Schnittchen zurecht.
Der schlimmste Tatort aller Zeiten
Der Tatort war immer schon umstritten, er war ein kollektiver Blitzableiter, er war und ist etwas, auf das man immer und jederzeit schimpfen kann. Lange war das auch so beim Wetterbericht. Wie lagen die Meteorologen doch immer verkehrt! Aber das hat sich geändert, wegen der zahlreichen Satelliten, die inzwischen unterwegs sind und ihre Signale zur Erde funken. Der Wetterbericht empfindet das Wetter des kommenden Tages oft sehr akkurat voraus, diese Erkenntnis hat sich inzwischen auch bei den allermeisten Leuten durchgesetzt. Die Wettermänner sind als Watschenmänner inzwischen komplett fehlbesetzt.
Der aktuelle Tatort aber ist, nach landläufiger Meinung, oft der schlimmste Tatort aller Zeiten, und damit passt er hervorragend in die selbstquälerische Stimmungslage der "Tatort-Republik" Deutschland, wie der "Spiegel" mal geschrieben hat. Wenn man also darüber nachdenkt, warum die ARD-Krimireihe Tatort 50 Jahre durchgehalten hat, obwohl sie so selten gelobt, aber so oft kritisiert wird, dann hat das genau damit zu tun: dass sie so gern kritisiert wird. In Deutschland sind nun mal auch sehr viele Besserwisser am Start, und natürlich ist ein Fernsehformat gerade dann besonders langlebig, wenn es seinem Publikum jedes Wochenende das Angebot macht, es besser zu wissen.
"Der Tatort funktioniert wie die Bundesliga"
Deutschland war zuletzt das Land der Millionen Virologen, beim Tatort ist es das Land der Millionen Kriminalkommissare, und wenn ein Fußballspiel gezeigt wird, ist es das Land der Millionen Trainer. Die Parallelen zwischen Tatort und der Fußball-Bundesliga sind überhaupt unübersehbar. Beide Phänomene sind über Jahre und Jahrzehnte gewachsen, beide binden die Aufmerksamkeit von Millionen, beide bringen Spieler und Stars hervor, die vom Publikum geliebt oder gehasst werden. Und wenn der FC Bayern die meisten Anhänger in der Bundesliga hat, dann hätte der Tatort Münster die meisten Anhänger in der Tatort-Liga. Der Schauspieler Klaus J. Behrendt, seit 1997 der Kölner Kommissar Max Ballauf, hat es genau so formuliert: "Der Tatort funktioniert wie die Bundesliga. Jedes Team hat seine Fans." Wobei sich, nächste Parallele, mit der Verbreitung des Public Viewing im Fußball auch das Public Viewing beim Tatort etabliert hat. Man ermittelt beim gemeinsamen Schauen in der Kneipe. Man ermittelte, genauer gesagt: Corona hat die Pflege auch dieser schönen Tradition zuletzt ja unmöglich gemacht.
Viel Durchschnitt, aber auch Highlights
Der Tatort ist aber auch deshalb so langlebig, weil er noch etwas anderes im Angebot hat, etwas Gegenläufiges. Dem Spannungsaufbau folgt die Erlösung. Man kann sich mit seinen Twitterfreunden oder in der Gaststätte oder still für sich aufregen über den Tatort. Man kann aber auch wieder runterkommen, Dank des Tatorts. Denn nach 90 Minuten ist der Täter bzw. die Täterin gefasst: Rund 40 Tatorte gibt es im Jahr, viel Durchschnitt dabei, Spielmaterial zum Nebenherschauen. Unterm Label Tatort laufen inzwischen Sozialdramen, Komödien, Grotesken, Parodien, Splattermovies, Märchen, zuletzt ermittelte man in Münster sogar in der Vorhölle, die sich dadurch auszeichnete, dass permanent Karnevalssendungen im Fernsehen kamen - eine schöne Idee. Es gibt aber auch abenteuerlichen Unsinn; Geschichten, die nicht aufgehen, Logiklöcher. Aber auch immer wieder gutes Unterhaltungsfernsehen und sogar Highlights, über die man noch länger spricht. Was aber fast alle der 1.145 bisherigen Fälle verbindet: Sie wurden gelöst, das Offene Ende ist eine Rarität. Der Tatort am Sonntagabend beendet also eine komplizierte Woche im Leben seiner Zuschauer mit einem abgeschlossenen Fall und macht dem Zuschauer das Angebot, sozusagen unbelastet in die nächste komplizierte Woche zu gehen.
Die versöhnende Kraft des "Tatort"
Es gibt da draußen schließlich so viel Ungelöstes: Die Populisten haben die Welt ein Stück undurchschaubarer gemacht, die schwer verifizierbaren Botschaften im Netz, zuletzt Corona. Demonstranten bei der sogenannten Querdenkerdemo wollen die Virologen im Knast sehen, die Trumpisten in Amerika ("Lock her up!") wollen immer mal wieder Hillary Clinton im Knast sehen, die Trump-Gegner fragen sich, ob das nicht am Ende die wahre Angst der abgewählten Präsidenten ist: im Knast zu landen.
Im Tatort aber ist eindeutig, wer ins Gefängnis muss: diejenigen nämlich, die es verdient haben. "Jeder Mord im Fernsehen spricht uns ein bisschen frei - weil wir es nicht waren", sagt der österreichische Philosophieprofessor und Tatort-Experte Alfred Pfabigan.
So baut der Tatort am Ende sein Leben und Überleben auf seiner versöhnenden Kraft auf, und da unterscheidet er sich vom anderen großen Massenunterhalter, dem Fußball. Zum 50-jährigen wird man eine Doppelfolge sehen können, es ermitteln gemeinsam die Teams aus München aus Dortmund - ausgerechnet aus jenen Städten also, die in der Bundesliga die allergrößte Titelrivalen sind. Die Münchner Franz Leitmayr und Ivo Batic an der Seite der Dortmunder Peter Faber und Martina Bönisch. Als würden Lewandowski und Haaland auf einmal miteinander spielen.
Ein schönes Signal des Tatorts an die Welt da draußen, die angeblich doch immer mehr auseinanderfällt.