Dami Charf: "Die meisten von uns haben mit Trauma zu tun"
Die Therapeutin Dami Charf ist Trauma-Expertin und bietet körperorientierte Psychotherapie sowie Seminare an. Sie sagt, Trauma sei nicht nur ein individuelles Problem, für Heilung bräuchten wir auch einen gesellschaftlichen Wandel.
In ihrer Arbeit unterscheidet sie zwischen zwei Arten von Trauma.
Dami Charf: Ein Schocktrauma ist einfacher zu erkennen. Es ist ein einzelnes, überwältigendes Erlebnis, das ich nicht verarbeiten kann. Und es gibt Entwicklungstrauma, die sich vielmehr in unsere Persönlichkeit, in unsere Lebensmuster, in die Art und Weise, wie wir das Leben und andere Menschen sehen, einweben.
Was kann das zum Beispiel sein?
Charf: Zum Beispiel, dass Eltern nicht wirklich ansprechbar waren. Dass sie selber total unruhig waren und nicht emotional in Resonanz gehen konnten. Dass wir als Babys gleich alleine gelassen worden sind, im Nachbarzimmer waren - das bedeutet für Babys das Gefühl zu haben, zu sterben. Es wird bis heute noch nicht wirklich anerkannt, wie die Geburt gelaufen ist und so weiter. Also gibt es viele, viele Dinge, die man als Entwicklungstraumata bezeichnet.
Aber da würde man trotzdem auch von einem Trauma sprechen?
Charf: Das Wort Trauma ist inzwischen so belastet, dass viele denken, ich bin nicht vergewaltigt worden, und ich war nicht im Krieg - dann habe ich mit Trauma nichts zu tun. Das ist aber leider überhaupt gar nicht so. Die meisten von uns haben leider was damit zu tun - und Folgen sind oft am stärksten in unseren Beziehungen und in unseren Partnerschaften zu spüren: in einem Mangel an Intimität oder Nähe, dass ich viel Stress und Drama in der Beziehung habe oder, dass ich mich immer alleine fühle in Beziehung.
Es ist aber nicht nur ein individuelles Problem, sondern es gibt ja auch so etwas wie gesamtgesellschaftliche Traumata. Wenn man jetzt zurückdenkt an die NS-Zeit, was da entstanden ist oder wie es jetzt im Ukraine-Krieg ist. Wie kann da geholfen werden?
Charf: Also, das ist so ein bisschen auch da die Schwierigkeit - die Gesamtgesellschaft besteht aus Individuen. Und wenn wir quasi eine Bevölkerung haben, die weitgehend traumatisiert ist, dann haben wir lauter Menschen, die auch in dieser Traumatisierung die nächste Generation erziehen und Entwicklungstrauma weitergeben. Und das ist kein Wischiwaschi, sondern es ganz konkret. Wenn ich zum Beispiel an unsere kriegstraumatisierten Eltern denke, wir haben noch die Generation, haben sie zum Beispiel überhaupt viele kein Gefühl mehr dafür gehabt, was ein aufgeschlagenes Knie bedeutet. Eigentlich ganz banal, ihnen fehlte die Empathie-Fähigkeit für die kleinen Verletzungen des Alltags. Sie haben einfach gesagt. "Stell dich nicht so an." Sie haben im Bunker unter Bomben gesessen; das ist natürlich in Relation zu dem aufgeschlagenen Knie absolut banal. Nur für das Kind ist es nicht so, sondern das Kind kommt und will Trost - und läuft dann unter Umständen einfach gegen eine Wand. Und das macht etwas mit uns: Wie wir Erwachsenwerden, wenn wir Eltern haben, die gar nicht mit uns emotional in Resonanz gehen können.
Können wir als Gesellschaft, das einfach nur jedem selbst in die Schuhe schieben? Sozusagen, mach mal, bearbeitet das mal - und vielleicht beteiligen wir uns an den Kosten der Psychotherapie. Oder müssen wir einfach auch an unseren Strukturen etwas verändern, um Räume dafür zu schaffen? Und wenn wir das müssten, wer sollte das machen?
Charf: Das, was Sie gesagt haben, dass das Individuum es in die Schuhe geschoben bekommt, nach dem Motto 'kümmere dich', das funktioniert nur sehr teilweise - meiner Meinung nach. Also, es bräuchte vielmehr Räume, wo sich Menschen begegnen können, so wie sie sind und echte Begegnung möglich ist. Und dann fangen wir an, die ganze Gesellschaft aufzurollen. Das heißt, die architektonischen Lebensräume müssten schon sich verändern. Ich glaube, dass sich irgendjemand mal trauen müsste, Gesellschaft neu zu denken.
Was würden Sie sich wünschen? Zum Beispiel von der Kirche oder von den Religionen?
Charf: Ja, das ist ganz spannend. Ich habe ein paar Bücher gelesen, die erläutert haben, was uns abhandengekommen ist: der gemeinsame Sinn. Wie viel Überbau brauchen wir, an dem wir uns orientieren können, wo wir sagen können, meine individuellen Interessen stecke ich jetzt tatsächlich mal zurück für das größere Ganze. Wer gibt uns diese Idee noch?
Also, ich gucke ja von der Seite der Religion. Was müssen Kirchen und Glaubensgemeinschaften anders machen? Kann Glaube da etwas bewirken?
Charf: Ich glaube, ich bin aber nicht religiös. Es ist bekannt, dass Glaube ein großer Resilienzfaktor ist und gegen Trauma hilft. Nämlich durch die Sinnfindung. Menschen, die versuchen, einen Sinn und etwas Positives darin zu finden - in dem, was ihnen passiert ist. Sei es noch so schrecklich. Diejenigen, die das schaffen, werden sehr viel schneller wieder gesünder, in Anführungsstrichen. Gesund ist ein schwieriges Wort. Das heißt, Glaube ist ein ganz wichtiger Faktor für eine funktionierende Gesellschaft. Funktionierend hört sich blöd an. Aber ja, also für Menschen, die sich heil fühlen, sagen wir mal, weil es einen Sinn gibt. Menschen, die keinen Sinn in nichts sehen, haben es sehr, sehr schwer. Die leben in einer Welt voller Zufälle.
Okay, und sie würden Glauben, jetzt so definieren, als das ist noch etwas anderes, etwas Größeres gibt, zu dem ich auch in Resonanz treten kann?
Charf: Ja, genau. Wenn ich die Natur anschaue oder es einen Lebensfunken gibt. Man weiß ja immer noch nicht, wieso das Herz anfängt zu schlagen. Also im Prinzip etwas ganz Natürliches. Warum fängt in dem Fötus das Herz an zu schlagen … Niemand kann das erklären. Und warum hört es wieder auf, zu schlagen? Auch das kann niemand so richtig erklären. Es gibt unendlich viele Dinge, die wir nicht verstehen. Und insofern glaube ich, dass es da was Größeres und Sinnhaftes gibt, auch wenn ich den Sinn oft nicht verstehe. Als Kind hat mich das gerettet. Ich bin überhaupt nicht religiös erzogen. Ich musste auch nicht am Religionsunterricht teilnehmen. Aber ich bin immer hingegangen, weil ich es so faszinierend fand.
Was fanden Sie so faszinierend da?
Charf: Dass es so etwas wie ein einen Sinn und eben etwas Größeres gibt. Mich hat das mit Sicherheit halbwegs gesundgehalten. Also da ist der Glaube, dass es dieses Gefühl gibt, es muss einen Sinn geben, in dem was ich erleide. Ich verstehe ihn zwar nicht, aber es muss ihnen geben. Das glaube ich, hat mir ein Stück geistige Gesundheit erhalten - in einem verrückten Elternhaus.
Was macht Ihnen Hoffnung?
Charf: Also, es gibt einen Teil, der nicht so viel Hoffnung für die Menschheit hat, sage ich ganz offen, weil wir offensichtlich den Bogen nicht bekommen, richtig hinzuschauen und auch zu handeln. Und es gibt die Hoffnung - das hört sich jetzt sehr, sehr banal an - dass es doch noch so viel Liebe in das Leben gibt, dass wir den Hintern hochkriegen und uns verbinden. Und wieder erkennen, dass wir soziale Wesen sind, die eigentlich nur in Verbindung glücklich werden.
Das Interview führte Susanne Richter. Redaktion: NDR