Der Fall Relotius und die Folgen für den Journalismus
Claas Relotius hat zweifellos die Gabe, zu faszinieren. Mit dieser Gabe schaffte es der Journalist, seine Kollegen zu blenden und viele erfundene Geschichten als wahr zu verkaufen. Und das selbst im "Spiegel", dem Nachrichtenmagazin, das jede Geschichte durch seine Dokumentationsabteilung überprüfen lässt. Und nicht nur dort: Er blendete mit seinen packenden Reportagen auch die Jurys renommierter Journalistenpreise, die ihn auszeichneten. Er wurde in der Medienszene gefeiert und war für viele ein Vorbild - bis ihn schließlich ein aufmerksamer Kollege zu Fall brachte. ZAPP hat sich angesehen, was deutsche Verlage von ihm seit 2010 veröffentlicht haben und was davon gefälscht war. Eine erschreckende Bilanz.
Fast jede fünfte Geschichte eine Erfindung
Von einem Praktikum bei der "taz nord" mit kleineren und auch tagesaktuellen Berichten abgesehen, lieferte er allein hierzulande mehr als 100 Texte, vor allem Reportagen, Portraits und Interviews. All diese Medien haben inzwischen Prüfergebnisse vorgelegt. Sie lassen einen Interpretationsspielraum, doch grob ergibt sich dieses Bild: Bei knapp einem Drittel der Artikel haben die Redaktionen den Verdacht, dass Relotius Details dramatisiert, erfunden oder größere Teile aus anderen Medien abgeschrieben hat. Fast jede fünfte Geschichte gilt in den Redaktionen zudem zu wesentlichen Teilen als Erfindung.
Relotius war für viele Medien aktiv, zuletzt für den "Spiegel"
Bevor der "Spiegel" kurz vor Weihnachten 2018 die Affäre selbst öffentlich machte, hatte Relotius in Deutschland für die Nachrichtenagentur dpa, den "Cicero", die "Frankfurter Allgemeine", die "Financial Times Deutschland", das Magazin der "Süddeutschen Zeitung", den "Tagesspiegel", die "Welt", für Medien der "Zeit" und vor allem für "Spiegel" und "Spiegel Online" geschrieben. Seine Abschlussarbeit an der Hamburg Media School lief im NDR. Auch dieser Beitrag, der im Magazin "Weltbilder" zu sehen war, wurde geprüft. Er ist indes nicht zu beanstanden.
Journalist gesteht Manipulationen - und schweigt
Auch in den Verlagen gelten nicht all seine Beiträge als Fälschung: Knapp ein Viertel der Artikel sehen die Redaktionen im Wesentlichen als "sauber" an. Immer wieder stoßen die Redaktionen bei ihren Prüfungen, die alle veröffentlicht wurden, jedoch an Grenzen: Protagonisten melden sich nicht oder sind tot. Relotius selbst hatte Ende 2018 einige Manipulationen zugegeben. Seitdem schweigt er zu weiteren Details, auch auf ZAPP-Anfrage.
"Ich habe diesen Claas Relotius nie getroffen"
Der Hamburger Journalistikprofessor und frühere investigative Medienjournalist Volker Lilienthal hat mit seinen Studenten frühe Texte von Relotius gecheckt; insgesamt zehn Artikel, die zwischen 2010 und 2012 in der inzwischen eingestellten "Financial Times Deutschland" erschienen waren. Schon hier gehen die Prüfer teils davon aus, dass Relotius es mit der Wahrheit nicht immer genau genommen hat. Etwa bei einem Beitrag über eine Fotografin, die in Moskau Milliardärs-Kinder portraitierte. "Sie konnte von unseren Studenten telefonisch kontaktiert werden", berichtet Lilienthal, "und hat gesagt: Ich habe diesen Claas Relotius nie getroffen. Ich habe zwar diese Zitate irgendwo geäußert, aber das muss er sich aus irgendwelchen anderen Interviews zusammengeklaubt haben."
"Offenbar schon als junger Mann schädliche Neigungen"
Für Lilienthal ist angesichts dieser Rechercheergebnisse deshalb auch "die Annahme widerlegt", Relotius habe sich erst zum journalistischen Fälscher entwickelt, nachdem er für seine Veröffentlichungen mit Journalistenpreisen ausgezeichnet wurde und beim "Spiegel" unter besonderem Leistungsdruck gestanden habe. "Er hatte offenbar schon als junger Mann, noch als Student schädliche Neigungen", analysiert Lilienthal. Relotius habe sich "seine Arbeit eben auch erleichtert, indem er teilweise Artikel abgekupfert und dann noch Zudichtungen vorgenommen hat, um seine Textangebote an die Redaktionen aufzuhübschen".
Abschlussbericht beschreibt Relotius als Einzeltäter
Der "Spiegel" hat inzwischen den Abschlussbericht seiner Prüfkommission vorgelegt und auch online sowie im gedruckten Magazin veröffentlicht. Relotius wird klar als Einzeltäter beschrieben. Der Bericht stellt aber auch Schwächen im System fest: Die renommierte Dokumentation, in der mehr als 50 Faktenchecker arbeiten, prüfe zwar Informationen auf ihren Wahrheitsgehalt, aber nicht, ob "Spiegel"-Reporter auch tatsächlich vor Ort waren. Außerdem sei das Misstrauen gegenüber Relotius von "Spiegel"-Reporter Juan Moreno anfangs nicht ernst genommen worden. Die Kritik- und Fehlerkultur sei ein Problem, mitunter auch redaktionelle Strukturen.
"Spiegel" fordert Beweise von Reportern
Während der "Spiegel" nun eine Ombudsstelle für interne Whistleblower einrichten will und etwa darüber nachdenkt, Reporter zu Selfies mit ihren Protagonisten und Tonaufnahmen aller Gespräche zu verpflichten, treibt die neue Reportage-Kultur den Nachwuchs um. ZAPP hat Journalistenschüler der Zeitenspiegel-Reportageschule aus Reutlingen auf Auslandsrecherche in Armenien begleitet. Schülerin Ruth Fulterer besucht Demonstranten: Über Monate blockieren sie den Zugang zu einer Mine, aus Angst vor Umweltschäden. Die Journalistin darf das Lager besuchen und hält mit ihrem Smartphone alles im Bild fest - als Erinnerung, aber auch als Beweis.
Post-Relotius-Zeit: "Reporter-Ich" als Teil der Lösung?
Schon davor hatten die Schüler das Reporterforum besucht, einen Fachkongress, in dem es ausschließlich um das Genre "Reportage" geht und um Standards in der Post-Relotius-Zeit. Ein Instrument, das lange kritisch gesehen wurde, nun aber helfen könnte, um auch die Graustufen einer Recherche abzubilden, ist die Form der Ich-Reportage aus Perspektive des Reporters. In der Theorie hadern die Schüler damit. "Man überlegt halt, wie stark man sich in den Mittelpunkt drängen und wie stark man die Geschichte doch irgendwie dem Protagonisten lassen will", sagt Gabriel Prödl auf dem Reporterforum. In Armenien denkt Fulterer wiederum doch über die Ich-Form nach, um ihre persönlichen Eindrücke auch transparent als solche zu erzählen.
Medien setzen neue Dokumentationspflichten
Nach der Relotius-Affäre haben viele Redaktionen ihre Standards verschärft - darunter auch Medien, für die Relotius gar nicht aktiv war. Neben Fotos und Mitschnitten der Treffen mit Protagonisten gehören oft auch sogenannte "Dok-Fassungen" dazu, also eine Dokumentation der Recherchen über den eigentlichen Text hinaus mit Quellen-Hinweisen im wissenschaftlichen Fußnoten-System und entsprechenden Anlagen, die Reporter anders als früher nicht nur auf Nachfrage mitliefern sollen, sondern immer. Der Nachwuchs hat dafür nur bedingt Verständnis.
Reporter-Nachwuchs sorgt sich vor Dokumentationsaufwand
"Man hat schon das Gefühl, dass die Leute jetzt sagen, ja, ich sichere mich jetzt noch mehr ab", sagt Fulterers Mitschüler Tim Kalvelage und fragt: "Wer bezahlt mir eigentlich diesen Mehraufwand?" Fulterer rechnet je nach Umfang der Recherche mit ein bis zwei weiteren Tagen für die neuen Dokumentationsstandards. Reportage-Schülerin Friederike Oertel weiß noch nicht so recht, wie das künftig funktionieren soll. "Redakteure, die einen festen Job haben, können es sich viel mehr leisten, genau diese Zusatzarbeit noch da irgendwie rein zu investieren", sagt sie. "Aber als freie Journalistin geht das oft einfach gar nicht."
Viele Fragen bleiben offen
So bleiben nach der Relotius-Affäre viele Fragen offen: Wie praktikabel ist ein besseres journalistisches Sicherungssystem überhaupt? Welche Konsequenzen zieht der "Spiegel" tatsächlich, auch strukturell und personell? Und: Was trieb Claas Relotius überhaupt zu dutzenden Manipulationen und etlichen Fälschungen? Sicher ist: Es gibt für den Journalismus eine Zeit vor Relotius, in der Reporter kleine Stars waren und die Kontrollen mitunter zu lax, und eine Zeit danach, in der es für die Reporter unbequemer wird. Und diese Zeit hat gerade erst begonnen.
Welche Maßnahmen müssen ergriffen werden, um einen weiteren Fall Relotius im Journalismus zu verhindern? Wir freuen uns auf Ihre Kommentare am Seitenende.