Panorama - die Reporter
Dienstag, 01. September 2020, 21:15 bis
21:45 Uhr
Als die Mauer fiel, fingen auch die Neonazis an zu träumen. Sie wollten nicht nur die DDR stürzen sehen, sondern auch die Bundesrepublik Deutschland. Ein Ruck ging durch die Szene. Rechte DDR-Skinheads konnten sich endlich offen auf der Straße zeigen, westdeutsche Neonazi-Kader trommelten im Osten für die braune Revolution. Jetzt sprechen ehemalige Führungskader.
Worch: Mauerfall als Glücksfall für Neonazis
Der Parchimer Westneonazi Christian Worch schwärmt noch heute von den "personellen Ressourcen" in Ostdeutschland, die sich nach dem Mauerfall für die radikale Rechte im Westen ergaben. Denn in der Bundesrepublik konnten die Rechtsextremen vor der Wende kaum 1.000 Anhänger mobilisieren, so Worch im Interview mit Panorama - die Reporter. Der Mauerfall sei ein Glücksfall gewesen, sagt Worch. "Wir hatten plötzlich Zugriff auf Menschen, die mit dem kommunistischen System überhaupt nichts mehr am Hut hatten." Es seien Leute gewesen, die "bereits etwas geändert hatten und im Prinzip zu weiteren Veränderungen bereit waren". Damit meint Worch die Tausenden vor allem jugendlichen Rechten im Osten. Und so wurde für Worch und seine Westkader Ostdeutschland der Ausgangspunkt für den Traum vom Systemumsturz. Der "Führer von Hamburg", wie Worch in den Medien genannt wurde, fuhr mit seinen Kameraden in den Osten, vernetzte sich schnell mit Gesinnungsfreunden aus der ehemaligen DDR, agitierte und half beim Aufbau rechtsextremer Strukturen und Parteien.
"Die Lüge vom antifaschistischen Staat"
Denn in der DDR gab es Rechtsextreme, auch wenn die Staatsführung dies zu leugnen versuchte. "Die Staatssicherheit wusste im Grunde alles über diese Bewegung", sagt der Historiker Harry Waibel. Er hat 2.000 Stasi-Akten untersucht und unzählige Belege für rechte Gewalt- und Straftaten in der DDR gefunden. Diese Straftaten tauchten zwar in der Kriminalstatistik auf, etwa unter dem Straftatbestand "Rowdytum" - "aber kein Wort über neonazistische, rassistische, antisemitische Motivation", so Waibel. "So wollte die DDR die Lüge vom antifaschistischen Staat aufrechterhalten."
Die DDR-Nazigruppen trugen eindeutige Namen: "SS-Division Walter Krüger Wolgast", "Lichtenberger Front" oder "Wilhelmsruher Türkenklatscher". Trotz der antifaschistischen Staatsdoktrin der DDR hatten sich rund 200 solcher neonazistischer Gruppen entwickeln können, berichtet Bernd Wagner, ehemaliger DDR-Oberstleutnant der Kriminalpolizei. Ende der 1980er-Jahre leitete Wagner die "AG Skinhead", ein vom Innenministerium eingerichtetes geheimes Forschungsprojekt. Wagner kam insgesamt auf 15.000 Rechtsradikale in der DDR. Seine damaligen Erkenntnisse durfte der Kriminalpolizist vor dem Mauerfall aber nicht veröffentlichen. Die Studie der "AG-Skinhead" kam unter Verschluss. Denn offiziell durfte es in dem antifaschistischen Staat keine Neonazis geben.
Hasselbach wurde im DDR-Knast zum Neonazi
Ingo Hasselbach war ein Neonazi in der DDR. Als er in den 1980er-Jahren wegen versuchter Republikflucht ins Gefängnis kam, sperrte man ihn mit NS-Kriegsverbrechern, Tätern aus derNazi-Zeit, zusammen. "Diese Alt-Nazis haben mich indoktriniert, haben meine Wut auf das System gesehen und mir eine Alternative zum verordneten Antifaschismus gegeben." Hasselbach sagt, ohne den Knast in der DDR wäre er kein Neonazi geworden. Kurz nach seiner Haftentlassung fiel die Mauer. Hasselbach lernte Worch und andere westdeutsche Neonazis kennen und wurde innerhalb kürzester Zeit der wohl bekannteste ostdeutsche Neonazi. Die Medien nannten ihn den "Führer von Berlin". Er sollte die ostdeutschen rechten Kräfte bündeln und in Berlin anführen. "Die Wiedervereinigung funktionierte nirgends so gut wie bei den Neonazis", sagt Hasselbach rückblickend.
Zusammen mit seinen Kameraden besetzte er in Berlin-Lichtenberg mehrere Häuser. So wurde 1990 die Weitlingstraße die Hauptzentrale der Rechten und ein Anlaufpunkt für bis zu 400 Neonazis. Hasselbach wurde zum Parteivorsitzenden der neugegründeten rechtsextremen Partei "Nationale Alternative". "Der gewaltsame Systemumsturz war unser Ziel", erinnert sich Hasselbach. Es kam zu immer heftigeren gewaltvollen Auseinandersetzungen, Straßenschlachten mit Linken und Übergriffen auf Asylbewerberheime: Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Cottbus-Sachsendorf. Heute werden die 90er-Jahre als "Baseballschlägerjahre" bezeichnet.
Als am 23. November 1992 bei einem Brandanschlag von Neonazis im schleswig-holsteinischen Mölln zwei türkischstämmige Mädchen und ihre Grußmutter starben, stieg Hasselbach aus der rechten Szene aus. Die Mordtat, so beschreibt es Hasselbach heute, sei "durch das, was wir gesagt haben, was wir propagiert haben" geschehen. "Du kannst nicht rufen 'Ausländer raus' und dich dann umdrehen. Irgendeiner wird es umsetzen". Mölln wurde für Hasselbach der Wendepunkt. Noch heute spricht er von einer Mitverantwortung, die er schwer mit sich trägt. Nach seinem Ausstieg aus der rechten Szene musste er jahrelang untertauchen. Seine Familie und er wurden massiv bedroht.
Wegbereiter für starke Rechte im Osten
Die wiedervereinigten Neonazis aus Ost und West träumten nach der Wende vom Systemumsturz - der gelang ihnen nicht. Und doch wirkt das damalige Erstarken der Rechten offenbar bis heute vor allem in Ostdeutschland ist die AfD stärker und radikaler. Und es ist in den neuen Bundesländern häufiger der Fall, Opfer einer rechtsextremen Gewalttat zu werden. "Die Szene war Anfang der 90er nirgendwo so stark wie in den neuen Bundesländern. Wir haben da einen Boden gelegt und Strukturen entwickelt, die bis heute wirken", sagt Neonazi-Aussteiger Hasselbach, der die Szene inzwischen sehr kritisch beobachtet und zusammen mit Bernd Wagner die Aussteigerorganisation "Exit" gegründet hat.
Auch Langzeit-Neonazi Worch, der heute im mecklenburgischen Parchim lebt und im Bundesvorstand der rechtsextremen Partei "Die Rechte" sitzt, erklärt die heutige Stärke der Rechten im Osten mit der Geschichte der Wendezeit. "Die Leute, die damals vielleicht gerade eben erwachsen waren", so Worch, "die sind jetzt so um die 50 - die sind ja noch da".
Für den ehemaligen DDR-Kriminalpolizisten Bernd Wagner ist historisch nachweisbar, dass "die soziale, räumliche, soziokulturelle Verankerung von Rechtsradikalität im Osten intensiver ausgeprägt ist als im Westen".
- Autor/in
- Birgit Wärnke
- Julian Feldmann
- Produktionsleiter/in
- Dietmar Schiffermüller
- Sabine Grunitz
- Redaktion
- Schiffermueller, Dietmar