Neubrandenburger Flaggenstreit: "Was soll ich hier noch machen?"
Der Flaggenstreit in Neubrandenburg hat gezeigt, wie schlecht es um eine demokratische Kultur in der Stadt mittlerweile bestellt ist. Einigen Politikern scheint mittlerweile klar zu werden, was ihr Verhalten angerichtet hat.
Im Nachhinein ist Jan Kuhnert zerknirscht: "Scheiße, habe ich gedacht. Ich habe den Post gesehen und gedacht: Scheiße." Der Fraktionschef des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) im Neubrandenburger Stadtrat spricht aus, was offenbar manche in der Stadt dachten, als Oberbürgermeister Silvio Witt (parteilos) seinen Rücktritt ankündigte. Zuvor hatte der Stadtrat beschlossen, dass die Regenbogenflagge nicht mehr am Bahnhof wehen solle.
Witts für Mai 2025 geplanter Rücktritt offenbart nach Meinung einiger Stadtpolitiker ein tiefes Problem der demokratischen Kultur Neubrandenburgs. BSW-Politiker Kuhnert räumt nun, im Nachhinein, ein, dass auch seine Fraktion dabei eine entscheidende Rolle gespielt hat.
Enthaltungen machten Mehrheit möglich
Denn die Abstimmung über die Regenbogenflagge fiel knapp aus. Das Stadtparlament hat 43 Mitglieder, von denen zur Flaggenabstimmung aber nur 34 anwesend waren. 15 Stadträte stimmten für das Verbot, elf dagegen - und acht enthielten sich. Die relative Mehrheit erreichte der Antrag also wegen der vielen Enthaltungen, die alle von den Fraktionsmitgliedern von BSW und CDU stammten.
Die AfD und ein freies Wählerbündnis lokaler Unternehmer hatten geschlossen dafür gestimmt, die Regenbogenfahne nicht mehr zu hissen. Doch ohne die BSW-Fraktion wäre die Mehrheit nicht zustande gekommen: Drei ihrer Mitglieder stimmten dem Antrag zu, sechs enthielten sich.
"Wir hätten bei der Beschlussvorlage entweder eine längere Auszeit nehmen oder sagen sollen: 'Wir verweisen die zurück'", sagt Kuhnert heute. Das überhaupt über den Antrag abgestimmt wurde, sei überraschend gewesen. Für Bürgermeister Witt sei die Entscheidung nach Jahren der Anfeindungen und auch Drohungen wohl der letzte Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
CDU: Nicht mit diesen Konsequenzen gerechnet
Auch die CDU hat ein schlechtes Gewissen. Aus der CDUplus-Fraktion hatten zwar vier Mitglieder gegen das Flaggenverbot gestimmt, aber zwei sich auch enthalten - und vier Stadträte waren zur Abstimmung nicht da, darunter der Fraktionsvorsitzende Björn Bromberger. Er habe fest mit einer Ablehnung des Antrags gerechnet und auch nicht solche Konsequenzen erwartet. "Sicherlich hätte man da im Vorfeld bei diesem Beschluss auch noch mal mehr nachfragen müssen. 'Was macht ihr? Was machen wir? Und wie verhaltet ihr euch dazu?'", sagt Bromberger.
Wer hinter dem Antrag steckt
Eingebracht hatte den Antrag Tim Großmüller, ein umstrittener Unternehmer, der seit Jahren mit rechtem Populismus und Stimmungsmache gegen den OB auffällt. Seit der Kommunalwahl im Frühjahr sitzt er erstmals als Stadtrat in der Stadtvertretung. Großmüllers Wählerbündnis "Stabile Bürger für Neubrandenburg" hatte Witt im Wahlkampf noch als "kleinen F***r Regenbogenbürgermeister" bezeichnet - Witt lebt offen schwul.
Ein Interview vor der Kamera lehnt Großmüller ab, stimmt aber einem Gespräch zu. Dass er homophob sei, weist er von sich, ebenso, dass er ausländerfeindlich sei. Dann sagt er unter anderem: "Ich stehe zur Remigration. Ich möchte, dass ganz viele wieder gehen. Ganz viele." Seinen Flaggenantrag möchte er als taktisches Manöver verstanden wissen, denn er habe gewusst, dass Witt zurücktreten würde, sollte der Antrag durchkommen.
Existiert ein demokratischer Konsens noch?
Dass sich die Stadtvertretung dem Antrag dieses Mannes angeschlossen hat, macht OB Witt wütend: "Nach so einem Wahlkampf, nach so einer Art Parteien und Menschen zu beleidigen […] hätte man doch als demokratische Parteien sagen müssen: 'Wenn so jemand eine Vorlage einbringt, die wird nicht verwiesen, die wird nicht beschlossen, sondern die wird abgelehnt.'" Doch diesen demokratischen Konsens gebe es in Neubrandenburg nicht mehr, sagt Witt.
Der Bürgermeister ist nicht der einzige Lokalpolitiker, der angegriffen wird. "Durchschnittlich jeden zweiten Tag frage ich mich, ob ich nicht alles hinschmeiße", sagt SPD-Politiker Michael Stieber. "Ich muss zugeben, dass ich die letzten Tage auch darüber nachgedacht habe. Was soll ich hier noch machen? Aber wer soll es sonst machen?"
Witt: Schweigende Mehrheit glaube, sie habe damit nichts zu tun
Silvio Witt sagt, es gehe ihm nicht um seine persönliche Enttäuschung. "Sondern darum, dass dort Menschen agieren, die nicht im Sinne der Stadt agieren, aus meiner Sicht. Und dass die schweigende Mehrheit das akzeptiert, weil sie glaubt, sie hat damit nichts zu tun."
Die Vorgänge in Neubrandenburg haben erneut gezeigt, dass rechte Diskurse auch in den Kommunalvertretungen Raum finden. Mancherorts gibt es bereits rechte Mehrheiten in den Gremien. Am Ende steht die Frage, wie die Gesellschaft auf die Verschiebung nach rechts reagieren will - denn manchmal kommt eine rechte Mehrheit offenbar auch erst durch das Schweigen und Enthalten der Anderen zustande.