Sendedatum: 11.06.2019 21:15 Uhr

Zu wenig Personal an norddeutschen Gerichten

von Kian Badrnejad

Wenn Corinna Wiggers sich auf einen Prozess vorbereitet, erinnert es im ersten Moment an einen Umzug und nicht an eine Verhandlung. Zwei große Kartons packt die Richterin, voll mit Aktenordnern. Mühsam hebt sie die Kisten auf einen kleinen Umzugswagen, streift ihre Robe über und fährt den Wagen in den Verhandlungssaal. In den Kartons verbirgt sich ein mutmaßlicher Fall von Steuerhinterziehung. Wie lang sie damit bis zu einem möglichen Urteil beschäftigt sein wird, weiß sie noch nicht. Nur, dass sie eigentlich viel zu wenig Zeit dafür hat.

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Komplexere und längere Verfahren

"315 Minuten, also 5,25 Stunden habe ich offiziell für so einen Fall", sagt Corinna Wiggers. Vergangenes Jahr hatte sie zwei vergleichbare Fälle und hat dafür etwa 300 Stunden Zeit gebraucht. Seit etwa 20 Jahren arbeitet sie am Amtsgericht Lübeck als Richterin für Wirtschafts- und Jugendstrafsachen. Vor allem im Bereich der Wirtschaftsstrafsachen habe die Arbeitsbelastung deutlich zugenommen, berichtet sie. Die Verfahren seien komplexer und dauerten länger. 

Wie errechnet sich der Perosnalbedarf mit PEBB§Y?

Seit 2002 gibt es ein System, mit dem der Personalbedarf an den Gerichten und Staatsanwaltschaften berechnet wird, abgekürzt PEBB§Y. Entworfen hat es eine Unternehmensberatung im Auftrag einer gemeinsamen Kommission der Justizbehörden der Länder und des Bundes. Grob funktioniert es so: Alle paar Jahre schreibt eine möglichst repräsentative Auswahl Richter, Staatsanwälte und Rechtspfleger auf, wie lange sie für die Bearbeitung einer bestimmten Fallgruppe, etwa Jugendstrafsachen an Amtsgerichten, brauchen. Daraus wird, kombiniert mit einem komplizierten System von Faktoren, ein Wert ermittelt. Weiß ein Justizministerium, wie viele Fälle aus den jeweiligen Fallgruppen ein bestimmtes Gericht bearbeitet, lässt sich so errechnen, wie viel Personal dort nötig ist. In Norddeutschland haben in den vergangenen zehn Jahren alle Länder außer Hamburg begonnen, ihren Personalbedarf auf Grundlage von PEBB§Y zu berechnen. Panorama 3 hat die Daten aller Norddeutschen Bundesländer zu dem Personalbedarf und Personaleinsatz der ordentlichen Gerichtsbarkeit jedes einzelnen Amts- und Landgerichts (ohne Oberlandesgerichte) für das Jahr 2018 bei den Justizministerien der Länder abgefragt und verglichen.

Demgegenüber steht eine Justiz, die häufig deutlich schlechter ausgestattet ist, als sie eigentlich sein sollte. Panorama 3 hat den Personalbestand aller norddeutschen Amts- und Landgerichte abgefragt und die Daten ausgewertet. Mit erschreckenden Ergebnissen: die meisten Amts- und Landgerichte arbeiten mit deutlich weniger Richterinnen und Richtern, als nach dem offiziellen Bemessungssystem - genannt PEBB§Y - eigentlich vorgesehen ist. Hamburg berechnet seinen Personalbedarf anders als die restlichen norddeutschen Bundesländer und fließt deshalb nicht mit in die Auswertung ein.

Personalsituation in Niedersachsen besonders schlecht

Besonders schlecht steht Niedersachsen da, von den insgesamt 91 Amts- bzw. Landgerichten in Niedersachsen arbeiten an 87 Gerichten weniger Richterinnen und Richter als eigentlich offiziell vorgesehen. An nur vier Standorten sind die Gerichte personell abgedeckt oder sogar etwas besser ausgestattet (Landgericht Göttingen, Amtsgericht Goslar, Amtsgericht Rinteln und Amtsgericht Jever). 16 Gerichte in Niedersachsen haben eine personelle Unterdeckung bei Richterinnen und Richtern von sogar 20 Prozent oder mehr. Besonders schlecht steht das Landgericht Aurich da, mit einer Unterdeckung von 25,34 Prozent - das sind für dieses Gericht umgerechnet etwa sechs Vollzeitstellen weniger als im Bedarf festgestellt. In Schleswig-Holstein sieht es etwas besser aus: Aber auch hier hat nur die Hälfte der Amtsgerichte das nötige Personal, von den vier Landgerichten sogar nur Itzehoe. Spitzenreiter ist hier das Amtsgericht Rendsburg mit einer Unterdeckung von 21,43 Prozent.

Mecklenburg-Vorpommern schneidet nach den Angaben des dortigen Justizministeriums besser ab, hier liegen nach den vorhandenen Daten von den 14 Gerichten fünf (die Landgerichte Neubrandenburg, Rostock und Schwerin sowie die Amtsgerichte Rostock und Neubrandenburg) sogar über dem gemessenen Bedarf. Deutlich darunter befindet sich das Landgericht Stralsund mit einer Unterdeckung von 23 Prozent. Die Recherchen von Panorama 3 wollte das Justizministerium Mecklenburg-Vorpommern nicht bewerten.

Droht eine Zwei-Klassen-Justiz?

In der Praxis bedeute das Druck berichtet Corinna Wiggers. Es könne dazu führen, dass Richterinnen und Richter bei komplexen Verfahren dazu neigen, Deals abzuschließen um so Verfahren nicht ausufern zu lassen. "Damit verschaffe ich aber unter Umständen Leuten einen Vorteil, die anwaltlich besser vertreten sind als Leuten die das nicht sind. Das heißt, ich kriege irgendwann eine Klassenjustiz, diese Gefahr sehe ich", sagt Wiggers.

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Erhebung Schleswig-Holstein © NDR Foto: Screenshot

Durchschnittliche Verfahrensdauern im Norden

Panorama 3 hat die Daten der Norddeutschen Bundesländer zu dem Personalbedarf und Personaleinsatz der ordentlichen Gerichtsbarkeit jedes Amts- und Landgerichts für das Jahr 2018 bei den Justizministerien abgefragt und verglichen. Download (16 KB)

Bei zu langen Verfahrensdauern drohen außerdem Strafrabatte für Angeklagte oder Entlassungen aus der Untersuchungshaft. Auch dazu haben wir Daten abgefragt. Das Ergebnis: Die Verfahrensdauern steigen im Schnitt überall in Norddeutschland. In den vergangenen zehn Jahren um rund 15 Prozent in Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Hamburg, in Schleswig-Holstein um knapp 22 Prozent, in Bremen sogar um gut 26 Prozent.

"Justiz hat eine befriedende Funktion"

Längere, manchmal zu lange Verfahren, Deals für die, die es sich leisten können, Druck zu machen - für Carsten Löbbert, Präsident des Amtsgerichts Lübeck und Vorsitzender der "Neuen Richtervereinigung", ist das eine gefährliche Entwicklung: "Justiz hat eine befriedende Funktion. Für Menschen ist es wichtig zu wissen, wenn ich ungerecht behandelt werde, gibt es Gerichte, an die ich mich wenden kann. Wenn dieses Vertrauen verloren geht in einer Gesellschaft, dann gerät etwas ins Rutschen." Das Justizministerium Schleswig-Holstein antwortete bisher nicht auf die Fragen von Panorama 3 und ließ die Frist verstreichen.

Martin Speyer © NDR Foto: Screenshot
Martin Speyer, Justizministeriumssprecher in Niedersachsen, befürchtet keine negativen juristischen Folgen.

In Niedersachsen zeigt man sich überrascht von den Panorama 3-Recherchen, bei denen das Bundesland im Vergleich so schlecht da steht. Man sei überzeugt, dass es trotzdem bisher keine negativen Auswirkungen für die Justiz im Bundesland gebe, heißt es aus dem Justizministerium. "Das hängt damit zusammen, dass unsere Richterinnen und Richter, die Staatsanwältinnen und Staatsanwälte wirklich gute Juristen sind, die auch der höheren Belastungen durchaus gut standhalten können", sagt Ministeriumssprecher Martin Speyer gegenüber Panorama 3.

Zudem habe das Land Niedersachsen im vergangenen Jahr 60 neue Stellen geschaffen und wolle auch im Jahr 2019 weitere 40 Stellen schaffen. Nach Berechnungen von Panorama 3 wären allerdings mindestens 193 Vollzeitstellen nötig, um den Bedarf nach PEBB§Y für Niedersachsen zu decken.

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Dieses Thema im Programm:

Panorama 3 | 11.06.2019 | 21:15 Uhr