Überforderte Richter: Kein Prozess, kein Urteil, keine Strafe
Das Dorf ist mittlerweile zerstritten, mit jedem Tag, an dem es keinen Prozess gibt, wachsen die Zweifel. War da überhaupt was? In einer Kita im Dorf Antweiler in der Eifel wurden vor mehr als vier Jahren mutmaßlich Kinder gequält, gefesselt, geschlagen und gewaltsam zum Essen gezwungen. Die Staatsanwaltschaft Koblenz ermittelte, brachte den Fall zu Anklage. Seitdem ist so gut wie nichts passiert. Kein Prozeß, kein Urteil, keine Strafe.
"Das belastet unsere Familie sehr. Man kann einfach nicht abschließen", sagt Irina Enting. Sie gehört zu den betroffenen Eltern, die ihre Kinder in der Tagesstätte betreuen ließen. In dem 500-Einwohner-Ort rumort es. "Es gibt immer wieder Leute, die sagen: Das kann gar nicht gewesen sein, es gäbe sonst ja auch schon ein Urteil."
U-Haft-Verfahren gehen vor
Doch das Landgericht Koblenz hat es seit November 2015 nicht geschafft, die Anklageschrift zu prüfen. Ist das Gericht überlastet? Das rheinland-pfälzische Justizministerium jedenfalls teilt Panorama mit: Laut Berechnungssystem liege die Personaldeckung des Landgerichts bei über 100 Prozent, einen Richtermangel gebe es nicht. Woran liegt es dann?
In Deutschland müssen sich Richter vorrangig um Verfahren kümmern, in denen die Angeklagten in Untersuchungshaft sitzen. Denn laut Verfassung muss innerhalb von sechs Monaten der Prozess beginnen, sonst gibt es eine Haftprüfung und die U-Häftlinge müssen in den meisten Fällen frei gelassen werden. Niemand darf unnötig lange eingesperrt werden. Und weil man einem Richter ein Verfahren nicht einfach wieder entziehen kann, ist auch ein Wechsel der Strafkammer nicht so einfach möglich. All das führt offenbar regelmäßig dazu, dass vor allem arbeitsintensive große Fälle, bei denen die Beschuldigten nicht in U-Haft sitzen, liegenbleiben.
Verstaubte Kisten, wütende Nazis
Das gleiche Dilemma auch am Landgericht Dresden: Hier laufen wegen überforderter Richter mutmaßlich kriminelle Rechtsextremisten frei herum. Bereits 2012 gelang der Polizei ein Schlag gegen die rechte Hooligan-Gruppierung "Faust des Ostens". Die Staatsanwaltschaft ermittelte, klagte die fünf Anführer 2013 an, unter anderem wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung, schweren Bandendiebstahls und gefährlicher Körperverletzung. Passiert ist danach nichts. Im Gericht lagern mehrere große Umzugskisten mit 160 Aktenbänden, die seit vier Jahren nicht angefasst wurden. Immer wieder wurde der Fall "Faust des Ostens" von Fällen mit Angeklagten in U-Haft überholt. "Das geschieht nicht leichten Herzens", sagt Landgerichtspräsident Gilbert Häfner. "Dass gerade solch ein Verfahren auf die lange Bank geschoben wird, das macht einem Kopfzerbrechen."
Und während die Kisten vor sich hinstauben, wüten die Hooligans weiter. Mindestens zwölf Mal sind die fünf Angeklagten in der vergangenen Zeit straffällig geworden, unter anderem wegen Landfriedensbruchs, Hausfriedensbruchs und gefährlicher Körperverletzung. Konsequente Rechtsstaatlichkeit sieht anders aus. Wie kann das sein?
Ein Rechenfehler im System?
Der Jurist und ehemalige Panorama-Redaktionsleiter Joachim Wagner beobachtet seit Jahrzehnten den Zustand deutscher Gerichte. Für sein aktuelles Buch hat er in den vergangenen Jahren fast 200 Richter und Staatsanwälte interviewt. Sein Befund: Offenbar wird die Zeit, die ein Richter pro Verfahren hat, nicht weitsichtig genug berechnet. Für jedes Strafverfahren wird eine durchschnittliche Minutenzahl angeführt, das kommt oft hin - aber eben nicht immer.
Große, außergewöhnliche Verfahren, in denen es etwa um bandenmäßige Verbrechen und internationale, mafiaartige Strukturen geht, bringen das ganze System zum Einstürzen. "Diese Personalberechnung spiegelt die Realität der Strafjustiz sehr unzureichend wieder", sagt Wagner, "denn es berücksichtigt die riesigen Unterschiede in der Komplexität der Verfahren nicht ausreichend." Und deshalb werde das System gerne instrumentalisiert. Der Richterbund fordere mehr Stellen, die Politik sage auf Grundlage der gleichen Berechnungen: Ihr braucht nicht mehr.
Freilassungen trotz Fluchtgefahr
In Schwerin mussten sogar vier mutmaßliche Drogendealer wieder frei gelassen werden, weil ihnen am Landgericht nicht rechtzeitig der Prozess gemacht werden konnte. Über mehrere Jahre sollen die Männer in Mecklenburg-Vorpommern in Schuppen und Ställen Cannabis großflächig gepflanzt und verkauft haben. Die Anklage: Bandenmäßiges Handelstreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge; darauf steht bis zu fünf Jahre Haft.
Doch weil man am Landgericht nicht rechtzeitig einen Prozess anberaumte, wurden die Männer freigelassen. Trotz Fluchtgefahr und Priorität. Gerichtssprecher Detlef Baalcke bedauert die vorzeitigen Haftentlassungen. Ein anderes, noch größeres Verfahren mit U-Häftlingen habe die Strafkammer blockiert. "Es ist eine Situation, die auch aus unserer Sicht die absolute Ausnahme sein sollte", so Baalcke. Doch dass mutmaßlich Kriminelle frei gelassen werden müssen, ohne dass ihnen ein Prozess gemacht wurde, kommt gar nicht so selten vor. Nach einer Umfrage der Deutschen Richterzeitung ist das 2015 und 2016 bundesweit mindestens 85 Mal passiert.
Eine extra Strafkammer für Altfälle?
Was also tun? Eine eigene Strafkammer gründen, die sich nur um liegen gebliebene Fälle kümmert? Selbst Richter zweifeln. "Die Schwierigkeit wäre da: Irgendwann könnten sich vielleicht Richter bei einem unangenehmen Fall sagen: Der liegt jetzt schon zwei Jahre lang unbearbeitet auf meinem Tisch, im dritten Jahr wird er sowieso wegdelegiert, den lassen wir weiter herumliegen", vermutet der Dresdner Landgerichtspräsident Häfner.
Journalist Wagner glaubt, dass es heute schon eine Tendenz unter Richtern und Staatsanwälten gibt, leichte Verfahren vorzuziehen für eine bessere Statistik. "Die schweren Verfahren bleiben dann so lange liegen, bis es eigentlich für den Rechtsstaat unerträglich wird." Ob dies absichtlich geschieht oder nicht, das ist nicht festzustellen. Fakt ist jedoch: "Wenn Falschparker schnell bestraft werden und Drogendealer nicht, ist das natürlich eine grobe Verletzung des Gerechtigkeitsgrundsatzes", sagt Wagner.
Am Vertrauen in die Justiz gekratzt
Bei Familie Enting in Antweiler hat die lange Wartezeit auf einen Prozess bereits an ihrem Vertrauen in die Justiz gekratzt. "Na ja, wenn man meldet, dass Kinder misshandelt worden sind und dann monatelang so gut wie nichts passiert: Was soll man dann von dem Rechtssystem halten?" fragt die Mutter. Immerhin, kürzlich hat das Landgericht Koblenz den Kita-Fall wegen Überlastung endlich an eine andere Strafkammer gegeben, und neue Richter kümmern sich nun um den Fall. Die haben erstmal ein neues Gutachten angefordert, um die Glaubwürdigkeit der Zeugenaussagen zu prüfen. Eine Sachverständige soll die zehn ehemaligen Kita-Kinder noch einmal befragen - vier Jahre nach den Geschehnissen.