Strafverfolgung ohne Biss
Die deutsche Niederlassung des Medizingeräteherstellers DePuy ist in Kirkel im Saarland ansässig. Deshalb ist für die Aufsicht über DePuy Deutschland das "Landesamt für Umwelt- und Arbeitsschutz" (LUA) in Saarbrücken zuständig. In der Affäre um die schädlichen Hüftimplantate zeigten die Kontrolleure von der Saar ein sehr eigenwilliges Verständnis ihrer Aufgabe.
Zwar war den Saarländern vom nur beratend zuständigen Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte schon 2008 empfohlen worden, einzuschreiten und den Verkauf der DePuy-Hüftimplantate zu stoppen. Doch was machten die Aufseher? Sie schickten Fragen an die Firma in Kirkel. Darauf folgte eine Einladung in die Geschäftsräume des Implantate-Vertreibers. Hier bieten die deutschen DePuy-Manager am 03.03.2009 den Beamten eine PowerPointPräsentation dar. Darin erklären sie, dass die Versagensrate der Metallprothesen in Deutschland nur 1,4 Prozent betrage. Wenn es mal zu Komplikationen komme, liege das an der Unerfahrenheit des operierenden Chirurgen oder daran, dass Patienten mit schlechter Knochensubstanz ausgesucht worden seien. Als Konsequenz werde DePuy nun vorsorglich stets einen "Medizinprodukteberater" in den OP-Saal schicken, wenn ein Chirurg erstmals die ASR-Prothese einsetzt. Von den schlechten Ergebnissen in Australien brauche man sich in Deutschland nicht irritieren zu lassen. Auch ein beruhigendes Schaubild haben die Manager parat: mit der "Lernkurve" demonstrieren sie, dass, je häufiger ein Arzt die Implantate einsetze, desto weniger Revisionen fällig würden.
Kontrolleure verlassen sich auf Angaben des Herstellers
Die saarländischen LUA-Beamten schreiben brav mit und antworten an die Bundesbehörde in Bonn: "Ihre Einschätzung, dass zum gegenwärtigen Kenntnisstand die Anwendungssicherheit des ASR-Systems nicht in ausreichendem Maße gewährleistet zu sein scheint, wird vom Landesamt für Umwelt- und Arbeitsschutz als der zuständigen Überwachungsbehörde aufgrund der Unterlagen, die der deutsche Vertreiber bei der Besprechung am 03.03.2009 vorgelegt hat, nicht geteilt". Ein atemberaubendes Fazit. Nachforschungen bei unabhängigen Sachverständigen haben die Kontrolleure nicht angestellt. Sie haben sich allein auf die Angaben des Vertreibers verlassen.
Diesen Persilschein kann man nur als freiwilligen Abschied der Kontrollbehörde von ihrer Aufgabe, der Kontrolle von Medizinprodukten, werten. Das könnte beunruhigen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass das LUA diese Aufgabe offiziell immer noch ausübt. Zur Beruhigung trägt auch nicht die Antwort des übergeordneten Ministeriums für Verbraucherschutz auf die Anfrage von Panorama bei. Danach sei für "korrektive Maßnahmen" in erster Linie die Firma selbst zuständig. Es sei also alles gut gelaufen bei der Überwachung der DePuy-Hüften. Im August 2010 habe die Firma ja eigenhändig das Produkt vom Markt genommen.
Grenzwerte für Metallionen im Blut gefordert
Wie es das Landesamt mit der Presse hält, zeigen zwei sehr verschiedene "Empfehlungen" des Medizinfachmanns der Behörde nach dem Rückruf des Implantats. Dr. H. empfiehlt der Landesregierung auf Presseanfragen folgendes zu antworten: "toxische Wirkungen" von Metallionen im Blut seien nicht nachgewiesen. Im übrigen habe jeder Mensch natürliche Spurenelemente von Schwermetallen im Blut. In einer Mitteilung für den "internen Gebrauch" schreibt der LUA-Beamte etwas ganz Anderes: die Landesregierung solle vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte einfordern, Grenzwerte festzulegen, ab welcher Konzentration Metallionen im Blut gefährlich sind. Ob man es mit einem neuen Contergan-Skandal zu tun habe, könne er nicht sagen.
Persilschein schützt deutsche Manager von DePuy vor Strafe
Der amtliche Verrat am Wohl der Hüftpatienten hat Folgen bis heute. Denn der Persilschein der saarländischen Kontrolleure schützt die deutschen Manager von DePuy vor Strafe. Das zeigt sich, als die 3. Strafkammer des Landgerichts Saarbrücken im Juli 2015 die Anklage gegen einen Geschäftsführer von DePuy prüft. Die Richter weisen die Anklage zurück und begründen dies unter anderem mit dem Persilschein von 2009. Dem Geschäftsführer sei ja von den Beamten bescheinigt worden, dass die Versagensrate der Implantate nur bei 1,4 Prozent, also im Normbereich, gelegen habe. Er habe also davon ausgehen können, dass das Implantat astrein sei.
Auf die Idee, dass der Geschäftsführer und seine Kollegen die Beamten über die wahren Zahlen und Hintergründe getäuscht haben könnten, scheint das Gericht nicht gekommen zu sein.
Aktenvermerk über Kungelei mit DePuy
Diesen Verdacht scheint allein der ermittelnde Kriminalbeamte des LKA Saarland gehabt zu haben. Nach einer Strafanzeige gegen DePuy nimmt er 2011 Ermittlungen auf wegen "Verstoß gegen das Medizinproduktegesetz in einem besonders schweren Fall in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung." Im Zuge seiner Nachforschungen rollt der LKA-Mann auch das Vorgehen seiner Beamtenkollegen vom LUA auf. Am 07.11.2011 begibt sich der Kriminalermittler ins LUA zu einer "Besprechung". Eine "Vernehmung" sollte es zwar nicht sein. Aber der Unmut über die Kungelei seiner Beamtenkollegen mit der Firma DePuy hallt im Aktenvermerk wider, den der LKA-Mann nach der "Besprechung" verfasst.
"Es ist genau zu unterscheiden zwischen Aussagen des Herstellers/ Vertreibers, die bislang nicht belegt werden können, und tatsächlich nachvollziehbaren Fakten", moniert der um Aufklärung bemühte Polizist gegenüber den "Kontrolleuren" des LUA.
Fehler der Staatsanwaltschaft
Aus den Bemühungen des LKA-Mannes darf man allerdings nicht schließen, dass das Strafverfahren mit besonders viel Biss vorangetrieben wurde. Die Staatsanwaltschaft Saarbrücken übernimmt die Angaben aus der Strafanzeige. Da sind vor allem die Zahlen aus dem australischen Endoprothesenregister. Danach ist die Versagensrate der DePuy-Kunsthüften deutlich höher als die vergleichbarer Produkte. Aber mit eigenen Recherchen, der Erschließung neuer Quellen, tun sich die saarländischen Strafverfolger schwer. Allein die aufmerksame Lektüre eines Artikels im British Journal of Medicine aus dem Jahr 2011 hätte schon weiterhelfen können. Keine Kontakte zu Opferanwälten in den USA, keine Suche nach Ärzten, die für DePuy tätig waren.
Den schlimmsten Fehler begeht die Staatsanwaltschaft allerdings bei den Ermittlungen in der deutschen Niederlassung von DePuy. Sie "übersieht" nämlich den Mann, der in der Hierarchie von DePuy Deutschland im mutmaßlichen Tatzeitraum ganz oben stand. Harald S. ist von 2006 bis März 2009 im Handelsregister als Geschäftsführer eingetragen. In einem Organigramm der Firma thront der Manager über seinen Kollegen. Ehemalige Mitarbeiter von DePuy äußern gegenüber Panorama ihre Verwunderung darüber, dass S. nicht im Visier der Ermittlungen stand. Zumal S. auch direkt für den Bereich "orthopädische Implantate" zuständig war, während der letztlich angeklagte zweite Geschäftsführer den Bereich "Wirbelsäule" unter sich hatte. Diesen Fehler breitet der Verteidiger des Angeklagten in seinem Schriftsatz genüsslich aus. Der zuständige Oberstaatsanwalt räumt gegenüber Panorama das Versäumnis ein. Verurteilt worden wäre die Nummer Eins von DePuy Deutschland wohl auch nicht. Aber umso besser für ihn, dass er sich erst gar keinen Anwalt nehmen musste. Seitdem hat S. seine Karriere bei verschiedenen bekannten Medizinprodukteherstellern fortgesetzt.
Widerspruch zwischen Gutachten
Dem Justizversagen setzt die 3. Strafkammer des Landgerichts Saarbrücken allerdings die Krone auf. Auch wenn die Anklageschrift ihre Lücken hatte, so hat sie doch einen hinreichenden Tatverdacht gegen den DePuy-Geschäftsführer begründet. Allein die Referenzzahlen des australischen Endoprothesenregisters lieferten genug Anlass zur Vermutung, dass der Angeklagte von den Gefahren der Metallprothesen wusste.
Aber das Gericht ließ die Anklage wie gesagt nicht zu. Der unkritische Bezug auf die "Vorarbeit" der LUA-Beamten ist nicht die einzige Schwäche der Begründung. Die Richter behaupten auch, dass die Implantate "keine Produktfehler" aufwiesen. Dabei berufen sie sich auf ein Gutachten des Sachverständigen Wolfgang Plitz vom März 2015. Was die Richter nicht beachten: derselbe Sachverständige hat einige Monate zuvor in einem anderen Gutachten geschrieben, dass die Komplikationen beim ASR-Implantat von einem "herstellungsbedingten Mangel" hervorgerufen würden. Konkret nennt Plitz den zu kleinen "Spalt" zwischen Kugel und Pfanne der Kunsthüfte. Auf Anfrage von Panorama räumt Plitz den Widerspruch zwischen seinen verschiedenen Gutachten ein. Kann so jemand als Sachverständiger wirken? Nach Auffassung der Saarbrücker Strafkammer offenbar ja.
Versagen von Aufsichtsbehörden und Strafjustiz
Aber es kommt noch dicker. Die Richter führen aus, dass die Probleme nichts mit der Beschaffenheit des Implantats zu tun hätten, sondern auf schlechte OP-Technik zurückzuführen seien. Dabei berufen sie sich u.a. auf den bekannten Orthopäden Michael Menge, der bis zu seiner Pensionierung 2009 als Chefarzt in der orthopädischen Klinik des St. Marienkrankenhaus in Ludwigshafen praktizierte.
Menge wird in dem Beschluss mit den Worten zitiert, dass "der Schenkelhalsbruch (nach einer Hüft-OP) im Wesentlichen eine Komplikation des unerfahrenen Operateurs" darstelle. Auf die Nachfrage von Panorama, ob die Richter ihn korrekt wiedergegeben hätten, wird Menge deutlich: das Gericht sei auf die "implantatsspezifischen Risiken" gar nicht eingegangen. Die Begründung des Gerichts entbehre "einer klaren sachlichen Linie". Er selbst habe nach negativen Erfahrungen "kein Implantat von DePuy mehr verwendet". Das Implantat sei "zu spät" vom Markt genommen worden. Der "mafiösen Firmenleitung in England" wirft Menge vor, ihre Vertriebsleute weltweit als "Drückerkolonne" geschult zu haben. DePuy habe "mit wohl getürkten Daten und Fotos das Implantat in den Markt gedrückt". Zum Beweis präsentiert er zwei Fotos von einem Vergleichstest in einem Hüftsimulator. Das eine soll einen hohen Metallabrieb zeigen, der angeblich von einem Implantat des Konkurrenten Smith & Nephew stammen soll. Das andere zeigt "keinen Metallabrieb" und soll die tadellose Leistung der DePuy-Hüfte belegen. Mit diesen Fotos seien die Vertriebsleute von DePuy am Anfang auf Werbetour gegangen, sagt Menge. Dann stellte sich allerdings heraus, dass der von der DePuy-Hüfte verursachte Metallabrieb um ein Vielfaches höher ist als bei der Konkurrenz. An diesen Beobachtungen des Orthopädie-Professors war die saarländische Justiz wohl nicht interessiert.
Landgericht, Staatsanwaltschaft Saarbrücken und DePuy Deutschland möchten sich zu dem Fall nicht weiter äußern.
Nicht nur das Implantat selbst hat also versagt, sondern auch Aufsichtsbehörden und Strafjustiz. Mutmaßliche Straftäter sind so ungeschoren davon gekommen. Für die Patienten ist das ein Hohn und eine zusätzliche Bürde. Denn ihre Zivilklagen auf Schadenersatz und Schmerzensgeld werden dadurch schwieriger.