Metallspäne im Blut: Profit mit mangelhaften Hüftimplantaten
Gabriele Lühmann wird die Geschichte nicht mehr los. Im Sommer hat sie einen Gerichtstermin. Wenigstens Schadenersatz und Schmerzensgeld will die 54-Jährige Berufsschullehrerin aus Hamburg erstreiten. Aber das gestaltet sich schwierig. Die Gegenseite ist mächtig und hat gute Karten.
2008 und 2009 bekam Gabriele Lühmann auf beiden Seiten Metall-Hüftimplantate vom Typ "ASR" des englischen Herstellers DePuy eingesetzt. Bei der sportlichen Frau war Gelenkarthrose diagnostiziert worden. Die Implantate hielten nicht lange. Die Patientin klagte über Schmerzen. Im Blut wurde eine deutlich überhöhte Konzentration von Metallionen festgestellt. Zwischen 2011 und 2013 musste die Hamburgerin fünf Revisionsoperationen über sich ergehen lassen. Die DePuy-Implantate wurden wieder ausgebaut. Heute kann sich die Frau nur noch hinkend fortbewegen. Zur Schmerzlinderung nimmt sie Opiate.
DePuy wusste schon lange Bescheid
Nach Recherchen von Panorama und der "ZEIT" hätten die Kunsthüften schon 2008 nicht mehr implantiert werden dürfen. Denn DePuy wusste damals schon, dass die Produkte fehlerhaft waren und unerwünschte Nebenwirkungen hervorriefen. Das geht aus internen E-Mails hochrangiger DePuy-Mitarbeiter aus den Jahren 2005 bis 2008 hervor. Darin äußern Manager ihre Sorge über die "Versagensquote" der Prothese. Aus Australien meldet eine Mitarbeiterin bereits 2005 "einen Anstieg" der Revisions-OPs. Orthopädische Chirurgen aus aller Welt berichten dem Hersteller im Laufe des Jahres 2006 von Komplikationen wie "lockeren Hüftpfannen", "Schmerzen" und "erhöhten Metallwerten". Ein führender Fachmediziner aus den Niederlanden erklärt im Sommer 2006 gar gegenüber DePuy, dass er die ASR-Hüften nicht mehr einsetzen werde, weil er mit Komplikationen konfrontiert sei, die er sich "nicht erklären" könne.
Bedenken "im Keim ersticken"
Ein Hierarch aus der Marketingabteilung im englischen Leeds schreibt daraufhin an Kollegen, dass man solche Bedenken "im Keim ersticken" müsse. Zu dieser Linie passt der Erfahrungsbericht eines weltweit anerkannten orthopädischen Chirurgen aus Belgien. Im Panorama-Interview erzählt Koen De Smet, dass er von 2006 bis April 2008 einen Beratervertrag mit DePuy hatte. De Smet ist durchaus ein Verfechter von Metall-Prothesen, vor allem auch der knochenschonenden Oberflächenersatz-Technik. Aber beim ASR-Modell stellte er rasch Konstruktionsfehler fest. Die Überdachung der Kugel sei zu gering, der Durchmesser der Hüftpfanne zu klein. Die Folge: durch die Reibung gelangen Metallpartikel ins Blut. 2007 habe er DePuy empfohlen, entweder den Verkauf des Implantats zu stoppen oder die geometrischen Maße zu ändern. “Aber sie haben den Verkauf nicht gestoppt, und das Design wollten sie auch nicht ändern,” sagt der Mediziner. "Da habe ich meinen Vertrag mit DePuy gekündigt."
Aus der internen Firmenpost geht hervor, dass der Hersteller eine Korrektur des Designs ins Auge gefasst hat. DePuy berechnete demnach die Kosten. Am Ende - im November 2008 - legte das obere Management den Plan jedoch ad acta, "aus betriebswirtschaftlichen Gründen". In anderen Worten: zu teuer. Stattdessen verkaufte DePuy das alte, problematische Implantat noch fast zwei Jahre weiter. Erst im August 2010 stellte man den Verkauf ein, "freiwillig" und wieder aus "betriebswirtschaftlichen Gründen". Dass das Implantat fehlerhaft sei, bestreitet das Unternehmen bis heute.
Fünf- bis zehnfach höhere Ausfallquote
Das haben auch die Kontrollbehörden in Deutschland geglaubt. Weil sich die deutsche Niederlassung von DePuy in Kirkel im Saarland befindet, ist das dortige "Landesamt für Umwelt- und Arbeitsschutz" für die Überwachung der DePuy-Produkte zuständig. Ende 2008 lag der Fall bei den saarländischen Kontrolleuren auf dem Tisch. Nach den Recherchen ließen die Beamten sich von den DePuy-Managern "aufklären", ohne eine zweite, unabhängige Meinung einzuholen. Die Aufseher bescheinigten DePuy im März 2009 eine Versagensrate in Deutschland von 1,4 Prozent, also vergleichbar mit anderen Herstellern.
Diese Zahl nennt David Langton, ein englischer Arzt und Materialforscher an der Uniklinik North Tees und weiterer Insider der ASR-Affäre, "lächerlich". In Wahrheit müsse man von einer fünf- bis zehnfach höheren Ausfallquote ausgehen. In der Tat musste DePuy für den englischen Markt im Sommer 2010 eine Versagensrate von 12 bis 13 Prozent einräumen. Die Gutgläubigkeit der saarländischen Kontrolleure trug dazu bei, dass ein Strafverfahren gegen mehrere deutsche DePuy-Manager ins Leere lief, wie die Recherchen enthüllen.
"Menschen aus Gewinnsucht verstümmelt"
Auf Anfrage von Panorama äußert sich DePuy weder zum Inhalt der internen Emails noch zu den belastenden Aussagen der Experten. "Das Wohl der Patienten war und ist die Toppriorität von DePuy", erklärt das Unternehmen. Die Landesregierung im Saarland rechtfertigt ihre Kontrollpraxis auf Anfrage damit, dass "korrektive Maßnahmen" zunächst Aufgabe der Firma seien. Mit dem Verkaufsstopp 2010 sei das geschehen.
Für Tausende ASR-Geschädigte wie Gabriele Lühmann kam dieser Rückruf allerdings viel zu spät. Dem Unternehmen wirft sie "rein betriebswirtschaftliches Denken" vor, in dem die Gefahren für die Patienten keine Rolle spielten. "Es ist schon bitter, dass Menschen aus Gewinnsucht verstümmelt werden, ohne dass die Verantwortlichen dafür zur Rechenschaft gezogen werden", fügt sie hinzu.