Spekulanten greifen nach Arztpraxen

Stand: 05.04.2022 06:00 Uhr

Internationale Finanzinvestoren haben Hunderte Augenarztpraxen in Deutschland gekauft. In mehreren Städten und Landkreisen sind nach NDR Recherchen bereits monopolartige Strukturen entstanden.

von Christian Baars, Petra Blum, Brid Roesner, Anne Ruprecht

Das Uni-Viertel in Kiel. Vor einem vierstöckigen weißen Neubau ist ein Schild angebracht. Darauf zu lesen: der Name einer Augenärztin. Ein Hinweis auf die Eigentümerin der Praxis steht hier nicht. Die Ärztin ist nicht selbständig, sondern angestellt. Die Praxis hat ein Londoner Finanzinvestor gekauft und gehört jetzt zur "Sanoptis"-Kette. Und nicht nur diese Praxis: Mittlerweile arbeiten in Kiel nach NDR Recherchen mehr als die Hälfte aller ambulanten Augenärzte für den investorengeführten Konzern.

Arztpraxen: "Kaufe-und-Wachse"-Strategie

Unkenntlich gemachtes Schild einer Augenärztin © Screenshot
Wem gehören Deutschlands Arztpraxen? Hinter einigen Praxisschildern steckt mehr, als es scheint.

Sanoptis wurde erst 2018 von einer Private-Equity-Gesellschaft gegründet. Solche Kapitalunternehmen sammeln Geld von Anlegern ein und investieren es in verschiedene Branchen. Sie kaufen kleine Firmen, führen diese in einem größeren Unternehmen zusammen und versuchen das dann einige Jahre später möglichst gewinnbringend weiterzuverkaufen. "Buy-and-Build" - "Kaufe-und-Wachse" - nennt sich die Strategie. Und offenbar funktioniert sie auch mit Arztpraxen.

Sanoptis hat inzwischen drei regionale Praxis-Verbünde in Schleswig-Holstein übernommen und ist offenbar in kurzer Zeit zur größten Augenarztkette in Deutschland geworden - mit offenbar deutlich mehr als 150 Standorten. In Norddeutschland sind mittlerweile auch viele Augenärzte in der Region rund um Hannover, Braunschweig und Wolfsburg bei der Kette beschäftigt. Genaue Daten sind aber nicht bekannt. Auf Fragen von Panorama 3 zu verschiedenen Zahlen - etwa zu gekauften Praxen, durchgeführten Operationen und zum Umsatz - teilte Sanoptis mit, es beantworte "derartige Anfragen grundsätzlich nicht".

Augenärzte expandieren mit Investorengeldern

Stecknadeln mit weißen und roten Köpfen stecken in einer Landkarte © Screenshot
Es gibt Städte und Landkreise, in denen eine einzige Kette dominiert. Mehr als die Hälfte der Augenärzte gehören teilweise zu ein- und demselben Eigentümer.

Eine andere große Augenarztkette trägt den Namen "Artemis". Gegründet wurde sie von drei Ärzten in Hessen. Sie haben 2011 ihren damals noch kleinen Verbund mit sieben Kliniken und Praxen an eine französische Investmentfirma verkauft. 2015 übernahm ein neuer Investor mit Sitz in London. Inzwischen hat die Kette nach eigenen Angaben 140 Standorte in Deutschland, darunter etwa 20 Praxen in und um Hamburg.

Ähnlich verlief es bei der "Ober Scharrer Gruppe". Sie wurde von zwei Augenärzten in Fürth gegründet. 2011 haben sie ihr Unternehmen mit sieben Standorte an eine Londoner Private-Equity-Gesellschaft verkauft. Der Investor verkaufte die Kette 2018 weiter. Inzwischen war sie auf 80 Standorte angewachsen. Der neue Investor expandierte weiter, übernahm unter anderem einen regionalen Verbund mit mehreren Praxen in und um Osnabrück, aber auch Augenarztketten in drei anderen europäischen Ländern und führte sie alle in ein gemeinsames Unternehmen zusammen. Das soll nun offenbar an die nächsten Investoren weiterverkauft werden.

Über 100 Augenarzt-Praxen im Norden gehören Finanzinvestoren

Insgesamt gehören in Norddeutschland mehr als 100 Augenarztpraxen internationalen Private-Equity-Gesellschaften. In ganz Deutschland sind es inzwischen mehr als 500 und damit etwa dreimal so viele wie vor drei Jahren. Geschätzt arbeitet mittlerweile etwa ein Fünftel aller ambulant tätigen Augenärzte in Ketten von Finanzinvestoren. Und nicht nur in der Augenheilkunde zeigt sich dieser Trend. Investoren übernehmen auch andere Praxen - etwa von Zahnärzten, Radiologen oder Nierenfachärzten.

Vivek Kotecha © Screenshot
Vivek Kotecha verweist auf den wirtschaftlichen Druck, unter dem Ärzte in Private-Equity-Gesellschaften stehen können.

"Das Gesundheitswesen ist für die Investoren sehr attraktiv", sagt Vivek Kotecha, Finanzanalyst in London. "Die Bevölkerung altert, sodass viel mehr Geld für die Gesundheitsversorgung ausgegeben wird." Und die Investoren wollten davon etwas abbekommen. Eine Rendite-Erwartung von 20 Prozent sei bei Private-Equity-Gesellschaften durchaus üblich, sagt Kotecha. Das birgt aus seiner Sicht die Gefahr, dass Ärzte in solchen Praxen unter einem besonderen wirtschaftlichen Druck stehen. Und das sei nicht im besten Interesse der Patienten.

Ketten-Gründer wehrt sich gegen Vorwürfe

Kaweh Schayan-Araghi © Screenshot
Kaweh Schayan-Araghi ist Gründer der Artemis-Ketten und sitzt im Vorstand eines Verbands von investorengeführten Arztketten.

Die großen Ketten wehren sich gegen diese Vorwürfe. Keiner sei darauf aus, "schnelles Geld zu machen", sagt etwa Kaweh Schayan-Araghi. Er ist einer der Gründer der Artemis-Kliniken, einem anderem großen Augenarzt-Unternehmen, und zudem im Vorstand eines Verbands von investorengeführten Arztketten. Ein Unternehmen werde nur dann wertvoller, "wenn der Ruf gut ist, wenn die Qualität gut ist", sagt Schayan-Araghi. Außerdem habe man als Patient ja eine freie Arztwahl.

Doch die Recherchen von Panorama 3 zeigen, dass mittlerweile in mehreren Städten und Landkreisen die Wahlfreiheit eingeschränkt ist, weil die Mehrheit aller ambulanten Augenärzte für ein- und dasselbe Unternehmen arbeitet - wie in Kiel oder Osnabrück oder auch in Hessen, wo Artemis nach eigenen Angaben etwa die Hälfte aller Augenoperationen durchführt.

Gesetzesänderung gegen "konzernartige Strukturen" scheitert

Damit ist eine Situation entstanden, vor der der Bundesrat Ende 2018 explizit gewarnt hatte: "In immer mehr Bereichen der ambulanten ärztlichen Versorgung bilden sich konzernartige Strukturen aus, oft in der Hand renditeorientierter Unternehmen", hieß es damals in einer Stellungnahme. Der Bundesrat sah "die Gefahr der Monopolisierung und damit der Verschlechterung der Patientenversorgung". Es könne etwa "zu einer Einengung der angebotenen Versorgung auf bestimmte, besonders lukrative Leistungen" kommen. Der Bundesrat schlug eine Gesetzesänderung vor, um dem entgegenzuwirken. Die damalige Bundesregierung von CDU und SPD setzte sie jedoch nicht um. Der NDR hat das Bundesgesundheitsministerium gefragt, warum dies nicht geschehen ist, aber keine Antwort darauf erhalten.

Und auch die aktuelle Regierung scheint vorerst nichts ändern zu wollen. Das Bundesgesundheitsministerium teilte mit, es sei ihm nicht bekannt, "ob und inwieweit eine beherrschende Marktkonzentration augenärztlicher Versorgungsstrukturen" in einzelnen Bereichen vorliege und "worauf etwaige Konzentrationstendenzen zurückzuführen" seien. Insgesamt sei es auch rechtlich schwierig, den Markt stärker zu beschränken. Allein die Feststellung einer Zunahme von investorenbetriebenen Praxen dürfte nach Einschätzung des Ministeriums dafür nicht reichen.

Kartellamt: Übernahmen unter relevanten Umsatzschwellen

Das Bundeskartellamt teilte auf Anfrage mit, dass es in den vergangenen Jahren die Zukäufe der großen Augenarztketten nicht kontrolliert habe, da offenbar jede einzelne Übernahme unter relevanten Umsatzschwellen gelegen hat. Sollte es jedoch Hinweise darauf geben, dass es zu marktbeherrschenden Stellungen einzelner Unternehmen in einigen Regionen komme und zudem Probleme drohten, wie etwa steigende Preise oder schlechtere Behandlungen von Patienten, könne das Amt möglicherweise eine sogenannten Sektorenuntersuchung einleiten.

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Dieses Thema im Programm:

Panorama 3 | 05.04.2022 | 21:15 Uhr

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