Kein Schutz für Frauen in Flüchtlingsunterkünften

Stand: 24.05.2022 09:00 Uhr

Messerstechereien, übergriffige Mitbewohner und Sicherheitsleute bis hin zu sexuellem Missbrauch: So lauten immer wieder Vorwürfe, gerade von alleinreisenden Frauen aus Flüchtlingsunterkünften. Das Problem: Norddeutschlandweit gibt es kaum verpflichtende Gewaltschutzkonzepte.

von Lea Struckmeier

"Es gibt dauernd Auseinandersetzungen. Ständig ist die Polizei da. Du weißt nie, wann dich jemand angreift". Das erzählt uns eine Bewohnerin der Flüchtlingsunterkunft Ehra-Lessien in Niedersachsen. Wir treffen sie und sechs weitere Geflüchtete - sie berichten von ihren Ängsten und Problemen in der Unterkunft. Sie wollen anonym bleiben. Denn sie haben Angst vor den Mitarbeitern dort und Angst davor, schikaniert zu werden, wenn sie mit uns sprechen.

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Die Flüchtlingsunterkunft Ehra-Lessien im Landkreis Gifhorn © Screenshot

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Frauen flohen vor dem Krieg - und fühlen sich hier auch nicht sicher

Die Unterkunft ist ein ehemaliger Truppenübungsplatz der Bundeswehr im Landkreis Gifhorn. Sie liegt umgeben von dichtem Nadelwald mitten im Nirgendwo. Handyempfang gibt es hier nicht überall und die nächste Bushaltestelle liegt einen knapp 30-minütigen Fußmarsch entfernt. Auch Hilfe ist somit weit weg. Die Frauen, die mit uns reden, leben hier seit Monaten, manche auch schon jahrelang. Sie alle sind vor Kriegen und Verfolgung geflohen, doch auch in Ehra-Lessien fühlen sie sich nicht sicher.

"Dann fragen sie wieder: bist du alleine?"

Durchschnittlich zweimal in der Woche wird die Polizei gerufen, schreibt das Innenministerium Niedersachsen. Ständig gebe es in der Unterkunft Auseinandersetzungen, Streit, Prügeleien und Probleme mit betrunkenen Männern, erzählen uns die Bewohnerinnen. "Es passiert andauernd, dass Männer auf mich zukommen. Bist du alleine? Bist du verheiratet? Das macht mir große Angst. Denn selbst wenn du schläfst, können sie an deine Tür klopfen. Dann fragen sie wieder: bist du alleine?"

Eine andere Frau berichtet sogar von einem sexuellen Übergriff. Der Täter sei nachts in ihr Zimmer gekommen als sie geschlafen habe. Die Polizei habe den Vorfall zwar aufgenommen, doch der Täter sei zunächst in der Unterkunft geblieben. Er musste erst später, als er noch einmal übergriffig gewesen sein soll, die Unterkunft verlassen.

Verpflichtende Schutzkonzepte fehlen

Eigentlich müssen Geflüchtete, die häufig von Gewalt betroffen sind, in Flüchtlingsunterkünften besonders geschützt werden. Das ist laut EU-Aufnahmerichtlinie Pflicht. Schutzbedürftige Personen sind vor allem alleinreisende Frauen, Kinder, queere Menschen und Personen, die bereits Opfer von Gewalt geworden sind. Doch einheitliche Schutzkonzepte gibt es dafür nicht. In Norddeutschland haben nur Niedersachsen und Bremen ein verpflichtendes Schutzkonzept.

Im niedersächsischen Schutzkonzept heißt es zum Beispiel: Gemeinschaftsunterkünfte müssen Gewalt- und Kinderschutzkoordinatoren haben, alle Wege müssen beleuchtet, Unterkünfte von Männern strikt von Frauenunterkünften getrennt und Duschkabinen müssen einzeln abschließbar sein. Doch dieses Schutzkonzept gilt nur für die vom Land Niedersachsen betriebenen Erstaufnahmeeinrichtungen. Für die vielen kommunalen Unterkünfte wie in Ehra-Lessien gibt es keine verbindlichen Konzepte. Jede Kommune entscheidet also selbst, ob sie überhaupt ein Konzept hat.

Landrat: "Ich weiß nicht, ob man es auf dem Papier haben muss"

Gifhorner Landrat Tobias Heilmann © Screenshot
Der Gifhorner Landrat Tobias Heilmann hat keine Schutzkonzepte für die Flüchtlingsunterkünfte.

Für die Einrichtung in Ehra-Lessien ist der Landkreis Gifhorn zuständig. Landrat Tobias Heilmann hält Schutzkonzepte für nicht zwingend nötig: "Wir versuchen von Anfang an so zu sortieren, dass es kaum zu Gewalt kommen kann. Ein Konzept, schwarz auf weiß, haben wir nicht im Landkreis Gifhorn. Ich weiß nicht, ob man es immer auf dem Papier haben muss oder ob man es einfach so lebt. Wir versuchen, es so zu leben", sagt Heilmann. Dass das so nicht funktioniert, zeigen nicht nur die Schilderungen der Frauen, sondern auch Videos aus der Unterkunft, die Panorama 3 vorliegen.

Von massiven Problemen in Flüchtlingsunterkünften berichtet auch Aigün Hirsch vom Flüchtlingsrat Niedersachsen. Geflüchtete würden respektlos behandelt und es werde bei Gewalt häufig nicht rechtzeitig eingegriffen. "Ich weiß nicht, ob Menschen, die dort arbeiten auch verstehen, was Gewalt überhaupt ist und wann sie geschieht."

Sicherheitsdienste werden übergriffig

Unsere Recherchen zeigen zudem: Gewalt in Sammelunterkünften geht immer wieder auch von denen aus, die die Geflüchteten eigentlich schützen sollten - von Sicherheitsmitarbeitern. So kam es im Jahr 2021 in Sammelunterkünften in Mecklenburg-Vorpommern zu sieben Übergriffen von Sicherheitsmitarbeitern, in Schleswig-Holstein zu elf Übergriffen. In einem Fall wird gegen einen Sicherheitsmitarbeiter wegen sexuellem Missbrauch an einem Kind ermittelt.

Aigün Hirsch vom Flüchtlingsrat Niedersachsen © Screenshot
Aigün Hirsch vom Flüchtlingsrat Niedersachsen kritisiert, dass Frauen nicht besser geschützt werden.

Doch die Daten dürften unvollständig sein, denn viele Fälle werden gar nicht erst gemeldet - aus Angst. An den Flüchtlingsrat Niedersachsen wenden sich immer wieder Geflüchtete, die von Übergriffen der Sicherheitsleute berichten. "Wir müssen uns vor Augen führen, dass da eine ganz große Überlegenheit von Sicherheitsdiensten gegenüber den Menschen, die dort leben besteht, zu jeder Zeit. Das heißt, sie können entscheiden, wann sie wen reinlassen. Sie haben Zugang zu allen Räumen. Sie können entscheiden, welche Räume sie betreten, wem sie Hilfe zur Verfügung stellen und wem nicht", so Hirsch.

Gewalt beginnt nicht erst beim Schlag ins Gesicht

Schutzkonzepte würden Gewalt in Sammelunterkünften wohl nicht komplett verhindern, aber sie würden klare Regeln aufstellen und sensibilisieren, dass Gewalt nicht erst beim Schlag ins Gesicht anfängt. So sei auch das unerlaubte Betreten der Zimmer bereits Gewalt, weil es bei einer geflüchteten Person, die traumatische Erfahrungen gemacht hat, Panik auslösen könnte. "So lange Schutzkonzepte eine freiwillige Vorgabe bleiben, wo jede Kommune selber entscheiden kann, ob sie ein Schutzkonzept einführt oder nicht, werden wir immer das Problem haben, dass Menschen tagtäglich Gewalt ausgeliefert werden", sagt Hirsch.

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Dieses Thema im Programm:

Panorama 3 | 24.05.2022 | 21:15 Uhr

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