Opfer Kind: Sexueller Missbrauch in Flüchtlingsunterkünften
Sie waren erst seit wenigen Tagen in Deutschland: Familie S. aus dem syrischen Latakia hoffte nach wochenlanger Flucht endlich zur Ruhe zu kommen, endlich in Sicherheit zu sein. Doch dieser Tag im November ändert alles: Die Eltern und ihre drei Kinder sitzen beim Abendessen im Speisesaal der Notunterkunft im westfälischen Höxter. Die siebenjährige Sara ist fertig, läuft schon vor, will in ihr Zimmer. Doch dort kommt sie nicht an. Als das Mädchen wieder auftaucht, ist es vollkommen aufgelöst. "Ein Mann hat mich mit nach draußen genommen", berichtet sie weinend ihren Eltern. Er habe ihr Schlimmes angetan, ihr einen Film auf dem Handy gezeigt, seinen Penis herausgeholt und versucht, ihr die Hose herunterzuziehen.
Geschockt machen sie sich gemeinsam auf die Suche nach dem Mann - und finden ihn. Es ist der Pförtner der Unterkunft, der seit zwei Monaten dort für das Deutsche Rote Kreuz arbeitet. Mit Hilfe eines Dolmetschers rufen die Eltern die Polizei, der 33jährige Mann wird festgenommen. Es stellt sich heraus: Er ist mehrfach vorbestraft, auch wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern.
Ständige Angst vor Missbrauch und Gewalt
In deutschen Flüchtlingsunterkünften sind nach Schätzungen rund 200.000 Kinder und Jugendliche untergebracht. Viele von ihnen leben in ständiger Angst vor sexueller Gewalt. "Uns wird aus dem gesamten Bundesgebiet berichtet, dass es sexuelle Übergriffe, Grenzverletzungen und auch Vergewaltigungen von Kindern gibt", sagt Johannes-Wilhelm Rörig, der unabhängige Missbrauchsbeauftragter der Bundesregierung. Bei den Übergriffen gibt es drei Tätergruppen: Vermeintliche Helfer, die beispielsweise über Sprachkurse die Nähe zu Kindern suchen, Wachleute, aber auch Bewohner der Flüchtlingsunterkunft.
Allein in Hamburg hat es offenbar zwischen September und Januar acht Fälle von Übergriffen auf Kinder in Unterkünften gegeben, allesamt von Bewohnern. Das geht aus einer Antwort des Senats auf eine Anfrage der FDP-Fraktion hervor. Zu Anzeigen gegen die Täter kommt es generell jedoch selten - aus Scham, aber auch aus Sorge, den Behörden damit lästig zu werden oder das eigene Asylverfahren zu gefährden. Experten rechnen daher mit einer hohen Dunkelziffer.
Bundesweite Standards gefordert
Der Missbrauchsbeauftragte pocht deshalb zum besseren Schutz von Kindern vor sexueller Gewalt auf einheitliche Standards, die gesetzlich und bundesweit geregelt sein müssen. Dazu gehöre, dass betreute Schutzräume für Kinder und nach Geschlechtern getrennte Sanitäranlagen eingerichtet werden. Weiterhin müsse es Ansprechpartner geben, Flüchtlinge über ihre Rechte aufgeklärt und Helfer geschult werden, Warnsignale und Gefahren zu erkennen. Anforderungen, die in jeder deutschen Kita, in jeder Schule Standard sind.
"In Flüchtlingsunterkünften ist es im Moment leider dem Zufall oder dem besonderen Engagement einzelner Aktiver oder Träger überlassen, ob geflüchtete Menschen sicher untergebracht werden", sagt Rörig im Interview mit Panorama 3. Die Mindeststandards sollten eigentlich ins Asylpaket II einfließen. Doch "Maßnahmen zur Verhinderung von sexueller Gewalt" wurden kurzfristig wieder rausgestrichen. Übrig geblieben ist nur, dass ein Erweitertes Polizeiliches Führungszeugnis für Mitarbeiter in Unterkünften Pflicht ist. Das sei gut, reiche aber laut Rörig nicht aus. Das Gesetz bleibe weit hinter den fachlich gebotenen Möglichkeiten und den Vorgaben der EU-Aufnahmerichtlinie zurück.
Innenministerium schiebt Verantwortung auf Länder
Auf Nachfrage von Panorama 3 teilte das federführende Innenministerium mit, dass die Zuständigkeit für die Gewährleistung der Sicherheit grundsätzlich bei den Ländern liege. Die vorgeschlagenen Maßnahmen des Missbrauchsbeauftragten seien sinnvoll, bedürften "jedoch keiner gesetzlichen Regelung, sondern können von den für die Unterbringung zuständigen Ländern in der Praxis auch ohne bundesgesetzliche Vorgaben gewährleistet werden", heißt es. Immerhin hat das Familienministerium jetzt Initiative ergriffen und stellt nach eigenen Angaben zwei Millionen Euro zur Verfügung, damit Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünfte dem Schutzbedürfnis von Kindern, Jugendlichen und Frauen Rechnung tragen können.
In Internetforen von Pädophilen wird derweil darüber diskutiert, wie man sich Zugang zu Flüchtlingskindern verschaffen kann: "Jeder kann von sich aus Kontakt zu einer Flüchtlingsfamilie aufsuchen und den Kinderschützern dabei den Stinkefinger zeigen", heißt es in einem Eintrag. Das Führungszeugnis sei das "perfekte Alibi" - denn das schützt nur vor verurteilten Sexualstraftätern, nicht jedoch vor Ersttätern. Auch der Täter von Höxter, der die siebenjährige Sara aus Syrien missbrauchte, hat sich offenbar bewusst als Pförtner in der Unterkunft anstellen lassen. Zwar hatte das Deutsche Rote Kreuz ein Erweitertes Führungszeugnis von ihm angefordert - das lag jedoch zum Zeitpunkt der Tat noch nicht vor. Der Mann wurde vom Landgericht Paderborn zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren ohne Bewährung verurteilt. Vor Gericht hatte der mehrfach vorbestrafte Mann gestanden, sich im Beisein des Kindes selbst befriedigt zu haben.
Das bundesweite Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" berät kostenfrei, rund um die Uhr, anonym und vertraulich unter der 08000 116 016 und via Online-Beratung auf www.hilfetelefon.de Betroffene von Gewalt, ihr soziales Umfeld sowie Fachkräfte zu allen Formen von Gewalt.